2020. Was für ein Jahr. Eine Pandemie klopft an die Türen. Die Börse zuckt kurz zusammen und dann erst mal die Achseln. Im November: eine halbe Million Menschen in Kurzarbeit. Und eine halbe Million Menschen mehr arbeitslos als im Vorjahr.
Wie Deutschlands Firmenbesitzer, Manager, Arbeiter, Angestellte, Selbständige, Beamte, Rentner aus der Pandemie herauskommen, wird sich noch zeigen. Schon jetzt hat die Seuche aber Mythen erschüttert. Wie das Bild von Deutschland als dem Organisationsweltmeister. Föderalistisches Gestampfe wurde zum Tritt vors Schienenbein, oft genug vors eigene. Traditionell im Bildungswesen, neu im Ansteckungsgeschehen (Stichwort Laschet, Möbelhäuser, NRW).
Aber solche Jahresrückblicke kriegen Sie jetzt ja überall zu lesen. Deshalb hier etwas persönlicher und damit subjektiver.
Was hat das Jahr im Blog gebracht? 33 neue Texte. Nur? Für ein Kauf-Medium wäre das wenig. Für ein privates ohne finanzielle Interessen ist’s achtbar. Der Zeit abgerungen neben dem Broterwerb und der Steigerung des Bruttosozialprodukts. Unter den Beiträgen waren auch zwei Wortmeldungen per Fragebogen. Diese neu eingefangenen Stimmen der DDR haben mich besonders gefreut. Wie auch die Rückmeldung des Abteilungsleiters Sport der Jungen Welt, der eine Rezension mit Insider-Wissen bereichert hat. Ebenso gefreut hat mich, dass die Super-Illu meine Fragebogen-Aktion aufgegriffen hat und mit eigenen Fragen fortführt. Die Zeitschrift verkauft in Ostdeutschland mehr Exemplare als Spiegel, Stern und Focus zusammen.
Und Ostdeutschland an sich und als solches? Eine neue Studie hat eine ältere präzisiert. Und dabei ein weiteres Mal festgestellt, dass Ostdeutsche in den deutschen Eliten deutlich bis extrem unterrepräsentiert sind. Im Schnitt beträgt ihr Anteil 10 Prozent.
Nebenher fand ich scheinbar meine Meinung widerlegt, dass Ostdeutsche womöglich gar kein Interesse an Zugehörigkeit zu Eliten haben. Weil: für den Geldadel eh zu wenig Knete, für die Wirtschaftselite zu wenig Interesse am Business-Bullshit-Bingo, für die Politik zu wenig Faible für neue ewige Wahrheiten. In der Studie verneinen dann zwar über 80 Prozent der Befragten meine These vom fehlenden Wollen zum Aufstieg. Zum Glück hat mir der Journalist und Buchautor Holger Witzel alias Tamisdat aber auf Twitter noch rechtzeitig gesteckt, dass die Befragung ja repräsentativ gewesen ist. Und mithin mehrheitlich Westdeutsche befragt wurden. Uff, mein Vorurteil darf weiterleben.
Worin die Deutschland-Debatte vorangekommen ist: Bezahl-Medien spiegeln deutlicher als bisher die Vielfalt ostdeutscher Standpunkte wider. Zum Beispiel die Berliner Zeitung mit ihrer Serie Zeitenwende. Und mit der aufwendigen Widerlegung der Behauptungen eines viel gebuchten und viel zitieren westdeutschen Historikers über einen von der Stasi vertuschten angeblichen Mord durch DDR-Neonazis. Oder die Zeit im Osten. Und bei MDR Kultur hat Yana Milev ausführlich und hörenswert über die Entwertung des ostdeutschen sozialen und kulturellen Kapitals gesprochen.
Wobei es die Zeit im Osten nur im Osten gibt und auch die Berliner Zeitung überwiegend dort gelesen wird. Aber immerhinque! (Danke an Walter Kempowski für diesen Begriff.) Wer einen regelmäßigen Überblick über Ost-Themen in den Medien wünscht: OstWestNordSüd hat einen zweiwöchentlichen Newsletter dafür.
Mit Reiner Haseloff hat ein ostdeutscher Ministerpräsident der Erhöhung des Rundfunkbeitrags widersprochen. Für öffentlich-rechtliche-Medien, in denen der Osten oft gar nicht oder verzerrt vorkommt. Und ist nicht eingeknickt, nachdem Intendanten, Journalisten und Filterblasen die nach Arroganz und Öl stinkende Empörungsmaschine anwarfen. Weil doch auch die AfD gegen die Erhöhung sei und gerade in diesen Zeiten …
Zum Fußball: Es mag ja schön sein, dass Union in die Erste Bundesliga aufgestiegen ist und sich dort manierlich schlägt. Aber die Unioner könnten aus der Sammeltasse Glück mal einen Schluck in Richtung Elbe schwappen. Der 1. FC Magdeburg dort hat einen leeren Europapokal von 1974 und ansonsten die rote Laterne der 3. Liga. Dafür ham wir 89 nicht demonstriert!
Und privat? Danke der Nachfrage. Geht so. Muss ja. Eine Cousine ist verstorben. Meine Mutter, 77, ist nach mäßig gelungenen Operationen pflegebedürftig geworden. Aber dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen. Unberufen. Der Rest der Familie ist gesund. Und schlägt sich tapfer und mindestens auf Weltniveau durch Beziehungen, Beruf, Rente, Ausbildung oder Promotion. Auch hier: unberufen.
Ihnen und Euch wünsche ich ein gesundes, frohes 2021. Vielleicht gibt sich das neue Jahr ja ein bisschen mehr Mühe beim Funkeln als das alte. Es sei uns allen gegönnt. Auch dem 1. FC Magdeburg. Europa-Cup!
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