Der Kolonialismus hat ein neues, weiteres Gesicht: Er raubt nicht mehr Land, sondern Daten. Die Feldzüge beschreiben Ulises Mejias und Nick Couldry in ihrem Buch “Datenraub. Der neue Kolonialismus von Big Tech und wie wir uns dagegen wehren können“. Übersetzung: Thomas Wollermann.
Mejias ist Professor für Kommunikationswissenschaften in New York und Direktor des Institute for Global Engagement. Couldry ist Professor für Medien- und Kultursoziologie in London und Lehrbeauftrager in Harvard. Dass die beiden ein eingefuchstes Tandem sind, kommt auch ihrem neuen Buch zugute. Darin untersuchen sie die Kontinuität von Kolonialismus. Ohne die Nachwirkungen des „alten“ Kolonialismus zu negieren, sehen sie einen neuen Kolonialismus am Wirken, der sich nicht mehr auf Land richtet, sondern auf neue Ressourcen: die Daten. Mit ebenfalls negativen Auswirkungen auf die Kolonialisierten.
Ausbeutung und Ausgebeutete
Große Unternehmungen wie die britische East India Company oder die Vereenigte Oostindische Compagnie in den Niederlanden haben sich früher mit umfassender Unterstützung ihrer Regierungen aufgemacht zum Raub von Land, Ressourcen und Arbeitskräften. Die niederländische Gesellschaft zum Beispiel war rechtlich befugt, Kriege zu erklären, Piraterie zu betreiben, Kolonien zu gründen, Münzen zu prägen. So sei es den europäischen Kolonisatoren gelungen, 84 Prozent des Globus zu kontrollieren, obwohl ihr eigener Kontinent nur 8 Prozent der Landmasse des Planeten ausmache. Die Auswirkungen für die Kolonialisierten: der Tod von 175 Millionen Ureinwohnern Amerikas, 100 Millionen Indern, 36 Millionen Afrikanern allein durch die Sklaven-Transporte, … Propagandistisch begleitet wurde die Kolonisierung immer von einem behaupteten höheren ethischen Sinn: der christlichen Religion, einem Zivilisationsversprechen. Den Einwohnern eroberter Dörfer in Lateinamerika wurde von den Konquistadoren auf Spanisch das Requerimiento verlesen, eine Unterwerfungsverpflichtung, die bei Ungehorsam Sklaverei angedroht hat.
Ähnlich umfassend seien die Entdeckungs- und Expansionsbemühungen von Big Tech, die sich auf die virtuellen Territorien datifizierten Lebens richten, vom Einkauf über die Wohnung, Freizeitaktivitäten, Politik … Die Autoren ziehen eine Parallele von der unverständlichen Sprache des Requerimiento zu den verklausulierten Nutzungsbedingungen von Google, die dem Unternehmen auch umfassende Rechte gewähren; eine hübsche Sottise. Sie unterstellen Google nicht, seine Nutzer versklaven zu wollen, aber die Stoßrichtung ist klar: Es geht um die Kontrolle und ums Geld.
Algorithmen fällen Urteile ohne Verteidiger und Revision
Auf Mikroebene ermöglichen die Daten die Erstellung von Profilen für die gezielte Werbung. Auf Makroebene führen die aggregierten Daten zu Entscheidungen, die sich auf große Gruppen auswirken können. Etwa, wenn ein Algorithmus Unterscheidungen anhand von ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Einkommen, Gesundheitszustand trifft. Wie beim alten seien auch beim neuen Kolonialismus arme Menschen besonders betroffen: durch undurchschaubare Algorithmen, die ihnen Leistungen vorenthalten, durch Arbeitgeber, die sie über ihre Handys engmaschig bis ins Privatleben hinein kontrollieren.
Das Klassenzimmer: ein Datenterritorium. Die Gesundheit: ein Datenterritorium. Besonders gefährlich wird es, wenn Big Data und Big Brother sich verbünden könnten. Wo Abreibung illegal ist wie in vielen Bundesstaaten der USA, ließe sich zum Beispiel über den von einer Smart-Home-App überwachten Wasserverbrauch auf Schwangerschaft schließen: Schwangere müssen häufiger auf die Toilette.
So wie die herkömmliche Kolonisierung durch zivilisatorische Narrative gestützt wurde, wird es auch die neue. Mejias und Couldry nehmen sie auseinander: von der Vernetzung bis zur KI. Sie schreiben nicht aus einer Technik-Feindschaft heraus, sondern weisen auf die Bauchschmerzen hin, die der unersättliche Hunger von Big Data denen bereiten kann, deren Daten extrahiert werden.
Dass selbst einfache Daten auch ohne große Extrahierung in einer vernetzten Gesellschaft viel preisgeben, hat vorige Woche das Beispiel der verwahrlosten Wohlstands-Deppen auf Sylt gezeigt, die zu einem Party-Song Nazi-Refrains grölten. Kaum war das Video viral, waren sie von Hobby-Fahndern namentlich identifiziert, inklusive Arbeitgebern und Besuchs-Androhungen. Auch ganz ohne die Stimmerkennungssysteme, wie sie laut Mejias/Couldry von der DARPA finanziert werden, dem Forschungszweig des US-Verteidigungsministeriums.
Was man gewusst hat oder ahnen konnte über die harte Datenwährung, die Autoren dröseln die Fakten akribisch auf und stellen sie in einen neuen Bezug. Optimistisch stimmt sie dabei, dass der Widerstand gegen den Kolonialismus mit dem Kolonialismus entsteht. Sie geben Tipps, wie sich dieser Widerstand leisten lässt: im System, außerhalb des Systems, gegen das System. Indem Mitarbeiter ihre Unternehmen auf unethische Datenprodukte hinweisen. Indem Bürger gegen die engmaschige Videoüberwachung ihrer Städte eintreten. Spenden, bei datenkritischen Organisationen mittun, die Richtigen wählen, auf seine Daten achten.
Mejias und Couldry beziehen sich auf zahlreiche andere Autoren, unter anderem auf Zuboffs Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Der reiche Anhang nennt die Quellen und enthält ein Namen- und Begriffsregister.
Big Tech als die neuen Konquistadoren: reich, durchdrungen von Selbst- und Sendungsbewusstsein, voller Versprechungen. Das Buch ist eine anregende Lektüre.
Erschienen ist es bei S. Fischer. Es kostet 26 Euro und hat 400 Seiten. Der Link führt auch zu einer Leseprobe.
Thematisch passend:
- Trolle, Hacker, Datenmakler. Rezension “Das ist keine Propaganda. Wie unsere Wirklichkeit zertrümmert wird”, Peter Pomerantsev
- Angelesen: Soshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus
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