„Was bleibt?“, fragt die Politikwissenschaftlerin Joyce Marie Mushaben in einem monumentalen Werk über die dialektischen Identitäten Ostdeutscher. Vielleicht muss man ja 1952 in Ohio geboren sein, um die Puzzleteile der jüngeren deutschen Vergangenheit zu einem stimmigen Bild zu fügen.
Meinungen entstehen aus Erfahrungen: den eigenen, denen aus der Familie und von Freunden, Erfahrungen anderer, von denen wir gehört oder gelesen haben. Sind wir Wissenschaftler und haben das Glück oder Pech, auf dem untersuchten Gebiet auch Akteur oder Betroffener gewesen zu sein, neigen wir bei mangelnder Selbstreflektion dazu, die eigene Gruppe heldisch zu überhöhen und andere besonders finster zu zeichnen. Je nach Nachwende-Karriere ergeben sich dann für die Ursachen ostdeutscher Malaisen zwei Erzählstränge: eine kommunistische Diktatur, die als Langzeitwirkung ihren Bewohnern und deren Nachkommen Demokratiezweifel mNRA-genetisch eingeimpft hat. Oder das westdeutsche Raubrittertum der Wendejahre, das die ostdeutsche Seele erst aufgeputscht, dann gedemütigt und schließlich mit gerechtem Zorn erfüllt hat. Entweder – oder. Sowohl als auch wird nicht gern gekauft im innerdeutschen Diskurs.
Dass es besser ginge, zeigt Joyce Mushaben. “What Remains? The Dialectical Identitities of Eastern Germans” ist so umfassend und datenreich, dass es der Diskussion erfrischende Prisen Ambivalenz hinzufügt. Sie forscht seit Jahren und Jahrzehnten zu Deutschland. Auch 1989/90 war sie vor Ort, ist als US-Wissenschaftlerin aber gefeit vor deutscher Interessenpolitik. So finden sich bei ihr statt simplifizierender Täter-Opfer-Mitläufer-Darstellungen ausgefeiltere Einsichten in Milieus und Submilieus.
Identitäten in der Veränderung
Mushaben beginnt mit der Identität des Individuums und fügt weitere Schichten hinzu, die aus der Einbettung in Familie, Nachbarschaft, Stadt, Region, Nation entstehen. Das biologische und psychologische Individuum existiert demnach in einer “Peer Culture” der sozialen Interaktion und in einem weiteren Kreis des politisch-ideologischen Nationalbewusstsein. Kommt es zu Veränderungen oder Störungen in einem der drei Kreise, reagieren die Menschen unterschiedlich: durch Weggang (Exit), Widerspruch (Voice) oder Loyalität (Loyalty). Damit bezieht sich Mushaben auf den Sozialwissenschaftler Hirschman, der Reaktionen auf den Leistungsabfall sozialer Organisationen untersucht hat. Mushaben erklärt diese Handlungsmöglichkeiten in der DDR im Laufe der Zeiten und Generationen. Was trocken und banal klingt, aber exzellent lesbar und an zahlreichen Beispielen aufbereitet ist, wie im Kapitel Von Verlierern zu Gewinnern und zurück: die Stasi, Pastoren und Dissidenten. Und so buchstabiert sie auch die DDR neu durch als die „deutsche (anti-faschistische) demokratische Republik“, 1945–1948, als die „deutsche demagogische Republik“, 1949-1970, die „deutsche dialektische Republik“, 1971–1987, die „deutsche dramatische Republik“, 1988–1990 und schließlich die „deutsche demolierte Republik“, von März bis Oktober 1990. Welch feiner Humor.
Fakten, Fakten (und an den Leser denken)
Quellenstudium und eigenes Erleben zwirbelt Mushaben zu Erkenntnisgewinn für ihre Leser. Wussten Sie, dass der Demokratische Frauenbund Deutschlands DFD kurz nach seiner Gründung 1947 von Gewerkschaftern vor allem als Konkurrenz empfunden wurde? Und ob und wie der Runde Tisch gegen Gewalt im Sachsen-Anhalt der Neunziger funktioniert hat? Mushaben hat mit Teilnehmern und Politikern gesprochen und beschreibt Erfolge wie auch die Schwierigkeiten, aus Daten zu Lösungen zu kommen – eine von sechs Fallstudien, in denen sie Versuche analysiert, Repräsentationslücken durch alternative Formen der Zusammenarbeit und durch Vereinsleben zu schließen.
Joyce Mushaben zitiert deutsche Lyrik, aus Ostrowskis Wie der Stahl gehärtet wurde, sie zeigt den Stasi-Ausweis Wladimir Putins und reiht Anekdote an Anekdote – wie die Schwierigkeit, nach der Volkskammer-Wahl 1990 Kontaktdaten der frisch gewählten Abgeordneten zu erhalten, die damals selbst ihren Parteien unbekannt waren. Ihr Buch unterhält und ist auch darin der deutschen „Aufarbeitungsliteratur“ meilenweit voraus. Und wenn sie einen politischen Witz nacherzählt und darin Erich Honecker als Premier und Günter Mittag als Wirtschaftsminister bezeichnet, weiß sie sicherlich, dass beide andere Ämter hatten. Aber für ihre amerikanischen Leser wird der Witz so verständlich. Jetzt sind Sie wohl neugierig geworden? Na gut: Es geht um die Friedenspolitik und die Mittelstreckenraketen, und der Witz lautet: Was bedeutet die doppelte Null-Lösung denn eigentlich vom Standpunkt der DDR aus? Dass Erich Honecker und Günter Mittag zur selben Zeit sterben. Ich kannte ihn nicht.
Dass der Ort Merseberg in Wirklichkeit Meseberg heißt, ist ein Lapsus, der auch Lektoren entschlüpft.
Frauen als langfristige Gewinner der Einheit
Mushaben schreibt von einem unverkrampft feministischen Standpunkt aus. Westdeutsche Feministinnen seien zur Wendezeit in der Regel Akademikerinnen gewesen, intern in Lager gespalten, viele „zu sehr damit beschäftigt, das Patriarchat – und sich gegenseitig – zu kritisieren, als dass sie pragmatische, auf ein Thema ausgerichtete Koalitionen mit den Müttern der Arbeiterklasse auf der anderen Seite anstrebten.“ Frauen sieht sie auf der Gewinnerseite der Einheit. Was sie vor allem Angela Merkel zuschreibt: „Es bedurfte einer Ost-Kanzlerin, um viele der Ungerechtigkeiten zu beheben, die arbeitende Frauen durch ‘den Triumph des Vaterlands’ erlitten haben“: die Massenarbeitslosigkeit nach der Wende, den Verlust sozialer Einrichtungen und einen erhöhter Anteil an der Hausarbeit im Vergleich zu Vorwendezeiten. Erst die Gleichstellungspolitik der letzten zwei Jahrzehnte habe dann viele vertraute Rechte für Frauen wiederhergestellt und auch begonnen, die Rolle der Männer zu verändern: „Deutschland einig Mutterland“. Die vielen dauerhaft verdrängten oder degradierten Akademikerinnen der DDR wird das nur bedingt trösten.
Rechtspopulismus – ein Männer-Ding
Gute Argumente führt Mushaben an, wenn sie die hohe Zahl von AfD-Wählern in Ostdeutschland erklärt: einen Konflikt Treuhand vs. „Helden der Arbeit“ und den Clash männlicher Kulturen – „Östliche Unterlinge, westliche Bosse“. Frauen konnten bei plötzlicher Arbeitslosigkeit und dem Verlust ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit auf andere weibliche Identitäten zurückgreifen, „beispielsweise als Töchter, Mütter, Ehefrauen und Großmütter“. Für Männlichkeit sieht Mushaben in der DDR eine Beschränkung auf zwei Rollen: Soldat und Arbeiter. Obwohl Männer dazu erzogen worden seien, die Gleichberechtigung der Frauen zu akzeptieren, hätten höhere Gehälter [ungewichtet 16 %, bei gleichen Lohngruppen nur 7 %; Westdeutschland zum Vergleich 30 %, MK], Beförderungen sowie Anerkennung in Partei oder Gewerkschaft zu ihrem Selbstwertgefühl beigetragen. Dann fanden sie sich in ihrem Heimatland völlig verdrängt von westdeutschen Eliten; ein Zustand, der auch fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch andauere.
Zunächst profitierte davon bei Wahlen die PDS, doch deren Zusammenschluss mit westlichen Linken habe ihre frühere Authentizität untergraben, und ihre Beteiligung an mehreren Landesregierungen habe sie zu einem Teil des Establishments gemacht. Der Protest landete bei der AfD. Deren Wahlerfolge in den Parlamenten Ostdeutschlands den Frauenanteil zurückgehen ließen, wie Mushaben im Vergleich mit der Vor-AfD-Zeit analysiert. In westdeutschen Parlamenten ist dies je nach Bundesland unterschiedlich.
Reaktivierung sozialen Kapitals
Die oft als Ostalgie verspottete Wiederentdeckung persönlicher ostdeutscher Identitäten sieht Mushaben nicht als Glorifizierung der DDR oder als Versuch, sich von einer persönlichen Verstrickung mit einem autoritäten Regime freizusprechen. Sie vergleicht sie mit der „Nestalgie“, einem von ihr geprägten Begriff für die Sehnsucht Westdeutscher nach dem wohnlichen, bequemen Nest der Wirtschaftswunderjahre. Die Suche nach ostdeutscher Identität sieht sie als notwendigen Teil eines Prozesses, mit Teilen des alten Lebens neue Netze zu knüpfen, die den geänderten Umständen standhalten. Dabei bezieht sie sich auf Bourdieu und dessen Begriff Habitus und verknüpt Loyalität mit Sozialkapital.
Als Willy Brandt den Fall der Mauer kommentierte mit “Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört”, bescheinigte ihm Mushaben einen Mangel an demografischer Sachkenntnis, der ihn zu optimistisch hinsichtlich der Verschmelzung zweier diametral entgegengesetzter Kulturen gemacht habe: Zwei Drittel der West- und drei Viertel der Ostdeutschen 1990 seien nach dem Krieg geboren und hätten deshalb nie eine ganze Nati0n erlebt. Und während von den 16,4 Millionen DDR-Bürgern erwartet worden sei, ihr Leben neu zu bewerten, sei es für die 61 Millionen BRD-Bürger mit Business und Politik as usual weitergegangen.
„Ost- und Westdeutsche waren vier Jahrzehnte lang einer gegensätzlichen Propaganda ausgesetzt, die nicht nur zu unterschiedlichen Interpretationen der gemeinsamen Geschichte führte; ihre unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen boten auch viel Anlass zur Angst oder zum Misstrauen gegenüber den Menschen auf der anderen Seite“, bilanziert Mushaben. Westdeutschen stehe noch die Aufarbeitung bevor, wie auf vielerlei Wegen die Politik der BRD zur Aufrechterhaltung des sozialistischen Regimes nebenan beigetragen habe.
Und wie zum Trost zitiert Mushaben Hölderlin: Was bleibet aber, stiften die Dichter.
Ein Trumm und Turm von einem Buch, ein Füllhorn an Daten und eine ausgewogene Sicht auf die Deutschländer – dem Werk ist eine Übersetzung zu wünschen, ein leserfreundlicher Preis und ein Weg heraus aus den Hörsälen akademischer Zirkel und hinein in die Feuilletons, Talkshows und politischen Think Tanks.
Das Buch ist bei Springer Nature Switzerland erschienen, hat 562 Seiten, kostet 139,09 Euro im Druck und 106,99 Euro als eBook.
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Lieber Mario, Deine Rezensionen und ganz besonders diese, sind wunderbare Text-Ode, sehr erhellend. Ich habe sehr viel wiedererkannt. Vielen Dank!
Danke für Deinen wertschätzenden Kommentar, lieber André. Was für ein feiner Schlusspunkt für den Blog.