Menschen mit körperlichen Beeinträchtigen haben’s schwerer im Alltag. Ein Buch Ulrike Winklers schildert ihre Lage in der DDR: „Mit dem Rollstuhl in die Tatra-Bahn. Menschen mit Behinderungen in der DDR: Lebensbedingungen und materielle Barrieren“.

BuchcoverDie Studie entstand in einem universitäten Forschungsprojekt über den “Lebens- und Arbeitsalltag von Erwachsenen mit angeborenen oder erworbenen körperlichen sowie Sinnesbeeinträchtigungen, die nicht in einem Heim, sondern – allein oder mit ihren Familien – im dörflichen oder urbanen Raum lebten und versuchten, in größtmöglicher Selbstständigkeit ihren Platz in einer als sozialistisch propagierten Gesellschaft zu finden”. Das klingt sehr wissenschaftlich und ist es auch. Weil das Buch sich aber nicht an Fachtermini ergötzt, liest es sich flüssig als spannendes, gut geschriebenes Sachbuch. Das ist umso mehr zu schätzen, als die Autorin den großen Blick schweifen lässt: an politischen Grundsatzentscheidungen entlang hin zu den Möglichkeiten von Architektur, zu Wünschen, Hoffnungen und Enttäuschungen. Dafür hat sie Quellen zum Sprudeln und Leute zum Sprechen gebracht: Behinderte – in der DDR hießen sie Versehrte, Geschädigte oder Beschädigte –, Angehörige, Ärzte, Architekten, Behörden-Mitarbeiter.

In der Theorie war es wie immer einfach: Das Recht auf Wohnen hatte in der DDR Verfassungsrang. Die erste Verfassung von 1949 wollte jedem Bürger und jeder Familie „eine gesunde und ihren Bedürfnissen entsprechende Wohnung“ sichern und „Schwer-Körperbehinderte” dabei bevorzugt berücksichtigen. Die Verfassungen von 1968 und 1974 schränkten ein: “entsprechend den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten und örtlichen Bedingungen“. Sondergruppen wurden nicht mehr erwähnt.

Befreiung aus der Gefangenschaft der eigenen Wohnung
Die örtlichen Bedingungen und damit die Praxis untersucht die Studie ausführlich am Beispiel von Halle mit seinen Altbaugebieten und des Plattenbaugebiets Halle-Neustadt. Dabei unternimmt sie auch weitere Ausflüge, zum Beispiel anhand einer Untersuchung der AG Architektonische Barrieren innerhalb der Gesellschaft für Rehabilitation in der DDR in den Bezirksstädten Leipzig, Karl-Marx-Stadt und Berlin: „In Karl-Marx-Stadt hatten […] nur fünfzehn Prozent eine angepasste Wohnung, zehn Prozent waren praktisch Gefangene ihrer Wohnung“.

Winkler schildert an zahlreichen Beispielen die Versuche, diese Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu verringern – neue Richtlinien in der Theorie, breitere Türen in der Praxis, mehr Rampen, Müllcontainer-Boxen als Kleinstgaragen für Rollstühle. Sie zitiert aus dem Schreiben des schwer gehbehinderten Robert P., dessen Kleinstgarage für den Elektrorollstuhl zunächst Dutzende Meter entfernt entstehen sollte. Zusammen mit dem Wohngebietsausschuss schlug er eine Alternative vor, die dann auch errichtet wurde. P. Hatte gleichzeitig angeboten, die Müllcontainer-Box mit Hilfe seiner Brigade baulich zu verbessern mittels Trennwand, Steckdose, Sicherheitsschloss. Anträge, Eingaben, Eigen-Initiative: Gelernten Ostdeutschen wird das bekannt vorkommen.

Das Buch leistet keinen permanenten Ost-West-Vergleich, trägt aber mit seiner ausführlichen Bestandsaufnahme zu dem Eindruck bei, dass die Situation in der DDR der in anderen Ländern geähnelt hat – die Öffentlichkeit musste erst ein Bewusstsein für die besonderen Probleme behinderter Mitmenschen entwickeln und dann mit Empathie nach Lösungen suchen. Manche sind auch heute und nach Jahrzehnten allenfalls provisorisch. Exemplarisch dafür steht das Kino „International“ in Berlin, eröffnet 1963, architektonisch ein Schmuckstück der Ost-Moderne und für Cineasten ein Festsaal. 1989 stellte der Direktor der Bezirksfilmdirektion Bernd-Rüdiger Mann bei der Bauaufsicht einen Antrag auf Rollstuhlfahrerplätze – das Kino war nur über Treppen zu erreichen. Bis heute sei das Kino für Rollstuhlfahrer nur bedingt zugänglich, konstatiert Winkler. Das WC ist nicht rollstuhlgerecht, aber mittlerweile gibt es einen Aufzug, der nach vorheriger Anmeldung genutzt werden kann.

Aus eigener Erfahrung: Ich kannte in der DDR keinen Rollstuhlfahrer. Aber wie jeder DDR-Bürger hatte ich Erfahrungen mit der Wohnraumlenkung, also der staatlich gesteuerten Vergabe von Wohnraum durch die Wohnungsämter. Bei einem Praktikum im Wohnungsamt des Rates des Stadtbezirks Halle-Süd habe ich erlebt, wie die Mitarbeiter engagiert und frustriert nach möglichst gerechten Lösungen für die Zuweisung von Wohnraum gerungen haben – auch beeinflusst von Eingaben der Wohnungssucher an die Staats- oder Parteiführung, nicht zur Wahl zu gehen oder einen Ausreiseantrag zu stellen, falls sie keine Wohnung erhalten. Und selbst als Wohnungssuchender: Meine Frau und ich haben nicht wegen einer Wohnung geheiratet und ein Kind bekommen, sondern wegen der Liebe. Aber natürlich hat es die Entscheidungen erleichtert, als junge Familie auf eine eigene Wohnung rechnen zu können.

Die Studie Ulrike Winklers ist in jeder Weise angenehm unideologisch. Sie beleuchtet ein Kapitel der Sozialgeschichte, das unterzugehen droht beim Geraune von der „Ausgeforschtheit“ der DDR. Viele Fakten, klug eingeordnet.

Das Buch ist im Mitteldeutschen Verlag erschienen, hat 320 Seiten und kostet 32 Euro.

 

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