Ein Gastbeitrag von Norman Adler

Konnten Schriftsteller der DDR in die Zukunft blicken? Zumindest in einem Fall lässt sich diese Frage allem Anschein nach bejahen: Eine Passage eines seit 1975 in der DDR mehrfach aufgelegten Buches lässt sich lesen, als beschriebe sie die Situation ein halbes Jahrhundert später – die von heute.

Bild zeigt FadenkreuzIm Buch berichtet ein an der Wiederaufrüstung Westdeutschlands führend beteiligter Wehrmachts-Oberst über ein Treffen in Bonn:

„Die Hunderttausende rücken ein, wenn der Gestellungsbefehl kommt – aber was werden das für Soldaten! Wenn es knallt, halten sie Ausschau nach dem Baum, hinter dem sie für den Rest des Krieges in volle Deckung gehen können! […] Der militärische Berater des Bundeskanzlers war anwesend, und General Speidel [General Hans Speidel war militärischer Berater des Bundeskanzlers Konrad Adenauer und trat für eine westdeutsche Wiederbewaffnung zur „Wiederherstellung der Ehre des deutschen Soldaten“ ein – NA] sieht es als eine vordringliche Aufgabe an, eine umfassende und wirksame Militärpropaganda aufzuziehen. Wir müssen dem Volk ein Feindbild einhämmern.“
„… damit es marschiert.“
„Genau!“
„Und was sollen wir dabei tun?“
„Ideen produzieren … Ideen werden gebraucht! Man muss fünfundvierzig vergessen; man muss im Kintopp Maschinen mit dem Balkenkreuz nicht nur am Himmel, man muss sie siegen sehen! Glaubhaft … Mitreißend. Vom Dreißigpfennigroman über den Illustriertentatsachenbericht bis zum Großfilm in Farbe sind dabei alle Mittel recht. Geld spielt keine Rolle.“
„Und welches Feindbild wäre genehm?“
„Nun kommen Sie bloß nicht aus dem Mustopf! Wozu sind die Russen da? Wenn wir den Leuten morgens, mittags und abends einhämmern, dass der Osten bereitsteht, jeden Augenblick über uns herzufallen, und dass er nur auf den günstigsten Zeitpunkt wartet – zum Teufel, das muss doch wirken!“

Kommt Ihnen der Dialog nicht sehr modern vor? Das Feindbild der Kriegstreiber hat mit wenigen Konkretisierungen die Zeit bis heute überdauert. Der zitierte Textausschnitt stammt aus dem Buch von Otto Bonhoff und Herbert Schauer „Das unsichtbare Visier“, Militärverlag der DDR, 3. Aufl., Berlin 1987, S. 248 f.

Die Geschichten liefen ab 1973 als 16-teilige Serie des Babelsberger DEFA-Studios für Spielfilme auch im DDR-Fernsehen. Bis 1976 spielte Armin-Müller Stahl die Hauptrolle des MfS-Kundschafters Werner Bredebusch alias Achim Detjen. Die in dem Buch geschilderten Ereignisse wurden zu einem Großteil im Schloss der ostthüringischen Stadt Burgk gedreht. Denn die entscheidenden Gespräche zur bundesdeutschen Wiederbewaffnung fanden in einem Schloss in der Bundesrepublik statt – im Film ein wichtiger Handlungsstrang.

Das Buch und die TV-Serien werden wohl zu Recht als an der Realität orientierte Erzählung gewertet. Dafür sprechen auch die guten Kontakte, die die Verfasser mit dem MfS unterhielten, vor dessen Mitarbeitern sie Buchlesungen veranstalteten und mit deren Hilfe sie an Westliteratur herankamen. Es kann davon ausgegangen werden, dass sie auch mit realen Informationen des DDR-Geheimdienstes ausgestattet wurden. Jedenfalls sprechen die historischen Schilderungen, die Namen, Orte und Vorgänge, die sich nachvollziehen lassen, dafür.

Der Verdienst dieser Erzählungen von Schauer und Bonhoff liegt in der Akribie der Aufdeckung der historischen Hintergrundinformationen, die – wie anfangs dargelegt – auch heute noch zutreffend sind. Wohl kaum angezweifelt wird, dass die geheimdienstlichen Informationen des Mielke-Imperiums über das „Operationsgebiet“ im Westen legendär waren. So konnte der “Stasi-Held“ auch bei den DDR-Bürgern als „ostdeutscher James Bond“ Glaubwürdigkeit erlangen. Die Fernsehserie wurde zum Straßenfeger in der DDR; heute noch gibt es mindestens einen Fanclub, und die DVD-Serie befindet sich in vielen Haushalten.

Die in der Erzählung im „unsichtbaren Visier“ im Mittelpunkt stehenden real existierenden Dokumente, die Detjen für die DDR organisierte, haben deren Radiosender propagandistisch verwendet. In seiner Autobiografie bestätigt der DDR-Geheimdienstchef Markus Wolf, dass damals ein Dokument mit einer Planung zur militärischen Einverleibung der DDR den Weg in den Osten Deutschlands gefunden hat. Ziel der geplanten Operation war die „Befreiung der SBZ und Wiedervereinigung Deutschlands durch militärische Besetzung des mitteldeutschen Raumes bis zur Oder-Neiße-Linie“. Widerlegen konnte die Bundesrepublik die aufgedeckten Fakten nicht.

Alte Feindbilder und unselige Traditionen
Was kann der Verweis auf „Das unsichtbare Visier“ heute sagen? Insbesondere, dass damals wie heute die herrschende Klasse in der Bundesrepublik ihre Wurzeln in nationalsozialistischem Personal hat, nicht zuletzt im Justiz-, Militär- und Sicherheitsapparat. Und dass das dafür notwendige ideologische Feindbild nach wie vor im Osten verortet ist. Anscheinend ist es vollkommen egal, ob es sich bei dem vom USA-Präsidenten Ronald Reagan gesehenen „Reich des Bösen“ um eine sozialistisch orientierte Sowjetunion handelt oder um ein kapitalistisches Russland. Auch wenn jedweder Beweis für eine Bedrohung Russlands gegenüber dem Westen fehlt, wird behauptet, es bedrohe ihn. Das ließ die Churchill-Biographin Franziska Augstein kürzlich in der „Berliner Zeitung“ konstatieren: „Wie die Leute darauf kommen, Putin trachte danach, Nato-Mitgliedsländer zu überfallen, ist mir ein Rätsel.”

Kriege haben komplexe Ursachen. Deren glaubhaftes Aufdecken ist oft erst späteren Historikern vorbehalten, so auch beim russischen Angriff auf die Ukraine. Dennoch seien einige Fragen erlaubt – etwa seit wann in der Bundesrepublik von den Ukrainern gesprochen wird. Waren das zu Sowjetzeiten nicht alles Russen? Hat man da je in Politik und Medien einen Unterschied gemacht? Waren in nicht fast allen Hollywood- und sonstigen im Westen gedrehten Blockbustern die Schurken die Russen? Und wieso macht man sich über Putins Hinweise über Nazis in der Ukraine lustig, statt solche Vorwürfe und Argumente detaillierter zu prüfen, als mit oberflächlichen, von Interessen bestimmten „Faktenchecks“, um sie dann begründet zurückzuweisen?

Dies nicht zu tun, ist schon deshalb scheinheilig, weil jede Kritik hierzulande an dem als korrupt geltenden politischen System der Ukraine als rechts oder gar als rassistisch bezeichnet wird. Es sei nur an die hiesige Wertschätzung des faschistischen Kollaborateurs Stepan Bandera erinnert. Oder hat schon einmal jemand aus dem Bundestag nachgefragt, wie viele im Dienst des Großdeutschen Reiches während des Zweiten Weltkrieges stehende Ukrainer oder Balten, etwa SS-Angehörige, von der Bundesrepublik Renten bezogen haben? Und wie lange? Oder hat jemand mithilfe parlamentarischer Gepflogenheiten die Regierung um Auskunft gegeben, über welche Pläne die Bundeswehr verfügt, um an die für die Zukunft existenzsichernden Bodenschätze in Europas Osten heranzukommen?

Wie der deutsche Michel hinters Licht geführt wird und werden soll, hat schon damals der fiktive Achim Detjen erfahren.

Norman Adler

 

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