Prag, Mitte/Ende der 50er Jahre. Ein heißer Sommer wartet vor der Tür. Das Volksmusik-Ensemble Sedmikrása gastiert in Helsinki. Bis auf die Sängerin Jana Honzlová, 21, die keine Reisegenehmigung hat.
Sie hütet die Geschäftsstelle – und wirft einen Blick in Kaderakten und das Leben. Eigentlich dachte Jana, ihre Teilnahme am Gastspiel in Frankreich hätte den familiären Malus getilgt: der Vater hinterm Atlantik, ein Bruder eine Art Bausoldat, ein anderer im Arbeitslager im Uranbergbau. Aber beim Stöbern in den Kaderakten, der Code für den Panzerschrank stand auf einem Schild am Schlüsselbund, findet sie die Einschätzungen: “leichtfertig … mokiert sich über alles … benutzt vulgäre Ausdrücke … kommt zu spät zum Jugendbundtreffen […] täuscht eine positive Einstellung vor … gibt sich nicht einmal Mühe, eine positive Einstellung vorzutäuschen …”
Jana versucht, im Ministerium des Innern herauszubekommen, wieso sie sich in Frankreich nicht bewährt hat. Zum Beispiel hätte sie den Mitsängern und -tänzern dort wohl besser nicht aus den Memoiren Edith Piafs vorgelesen, diesem “pornographischen” Druckerzeugnis. Und ansonsten ereignet sich das Leben und gastiert der Tod, zwischen Flussbadeanstalt, Anwerbeversuchen eines geheimen Genossen, ersten Liebesabenteuern der vierzehnjährigen Schwester Andula (hoffentlich wird die Schlunze nicht schwanger), Herumstromern mit dem elfjährigen Bruder Hugo, Gesprächen mit einem verschmähten, zum Priester gewordenen Liebhaber, Blasen an den Füßen, weil das Geld knapp und es bis zum Ende des Tages noch so weit ist, dass man ruhig laufen kann.
Zur Erinnerung: In der Tschechoslowakei fanden in den Fünzigern auf sowjetischen Druck Schauprozesse mit fiktiven Anklagen wegen angeblicher antisowjetischer Konspiration, Hochverrat, Spionage und Zionimus statt, die sich vorrangig gegen Juden richteten und zu mehr als zehn Todesurteilen führten, darunter gegen Rudolf Slánský, Generalsekretär der Kommunistischen Partei.
Der Roman in Ich-Form stammt von Zdena Salivarová, Jahrgang 1938. Übersetzt wurde er von Sophia Marzolff. Salivarová hat das Buch in der Tschechoslowakei begonnen und im kanadischen Exil beendet. Es erschien dort erstmals 1972, in einem von Salivarová und ihrem Mann gegründeten Verlag. Die Autorin war wie ihre Protagonistin Sängerin im Tschechoslowakischen Staatlichen Gesangs- und Tanzensemble. Wie bei ihrer Romanfigur war auch der eigene Vater emigriert, ein Bruder in einem Arbeitslager inhaftiert. “Die Honzlová ist natürlich nicht die Salivarová, höchstens, mit ein bisschen gutem Willen, ihr Zwilling […]“, beschreibt die Autorin das Spiel zwischen Wahrheit und Fiktion.
Jana erzählt einfach vor sich hin: Die Umgangssprache sorgt für Frische und Authentizität. Aber gleich neben der Komik warten Bedrohlichkeit und Tragödie. Zählt der Roman, wie vom Verlag beworben, zum Besten, was die tschechische Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat? Jedenfalls ist er auf ähnliche Art authentisch wie Plenzdorfs “Die neuen Leiden des jungen W.”, ebenfalls 1972 veröffentlicht.
Ein Roman für Prag-Liebhaber, der ganz ohne Hradschin und Vyšehrad auskommt. Ein Buch für Junge und Junggebliebene. Ein Gesellschaftsroman ohne Pathos und ein Erinnern an die denunziatorischen Fallstricke des Sozialismus sowjetischer Prägung.
„Ein Sommer in Prag“ ist im Mitteldeutschen Verlag erschienen, hat 368 Seiten und kostet 30 Euro.
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