Der Weltraum, unendliche Weiten. Viele Lichtjahre von der Erde entfernt, dringt ein Raumschiff in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Doch was hält die Crew davon ab, durchzudrehen? In ihrem Buch untersucht Alexandra de Carvalho, wie Strategien aus dem All in den Alltag übertragen werden können, um auch dort für Resilienz zu sorgen: „Mission fühlen. Was wir von der Weltraumpsychologie lernen können”.
Im Versuchsfeld einer simulierten Mars-Mission ist der Mars eine Wüste in Israel und das Mission Support Center auf der Erde eine Lagerhalle in Innsbruck. Die sechs „Analog-Astronauten“ haben stressige Arbeitsziele, es ist laut und eng. De Carvalho ist als Teampsychologin dabei. Sie ist Psychotherapeutin und leitet das Team Humane Faktoren beim Österreichischen Weltraum-Forum. Und überträgt in ihrem Buch das, was sie im Versuchsfeld erlebt, auf vergleichbare Situationen im normalen Arbeitsleben: Terminstress im Beruf, undefinierte Hierarchien, zu enge Wohnungen und „krasse Krisen“ überall auf der Welt. Die Autorin schildert auch andere Extremsituationen mit außergewöhnlichen Belastungen und die dabei auftretenden Probleme, wie ein Gruppentraining im ewigen Eis mit 13 Monaten ohne Tiefschlaf, Team-Dynamiken, die Gefahr, einen Sündenbock zu suchen.
Das Leben an Bord eines Raumschiffs vergleicht sie mit einer WG, wo sich Beziehungen nach innen verlagern, Kontakte nach außen weniger werden und der Fokus auf der Gemeinschaft liegt. Kultur ist dabei wichtig für den Erfolg einer Misson. Wer als Ausländer in ein nationales Shuttle steigt, empfindet oft einen Gaststatus. Ein tschechoslowakischer Kosmonaut berichtete nach seiner Rückkehr offenbar nur halb im Scherz, wie ihm sowjetische Kollegen auf die Hand schlugen, wenn er etwas anfassen wollte.
De Carvalho bringt Beispiele, wie Kontaktbrücken zu Menschen geschlagen werden. In England würden einsame Menschen „auf Rezept“ zu Sozialarbeitern geschickt. Die Sozialarbeiter helfen ihnen, neue Kontakte zu finden, indem sie an Vorlieben anknüpfen. In der Jugend Schach gespielt? Dann auf in den Schachclub! Es gilt, psychisch stabil zu bleiben, auf der Erde wie im Weltraum, auch bei räumlichem Abstand zu Familien und Freunden und bei geringen Ressourcen. In diesem unserem Alltag mal die Nachbarin einladen, auch wenn deren Kinder Chaos verbreiten, den Kollegen anrufen, vereinbarte Treffen mit Freunden auch dann wahrnehmen, wenn wir wegen schlechter Laune lieber absagen würden. Und hier wie in den Extrem-Habitaten: Konflikte anzusprechen, ehe sie eskalieren und die Crew spalten.
Führungsstilen widmet de Carvalho ein eigenes Kapitel – welche sind geeignet, um die Balance zu finden zwischen notwendigen schnellen Entscheidungen und der Autonomie der Team-Mitglieder?
Das Buch liest sich flüssig, auch wegen seines mitunter anekdotischen Charakters. Selbst wenn die Schlussfolgerungen keine Sensationen bieten, gewinnen Leser einen guten Einblick in Extrem-Situationen und die Versuchsanordnungen dafür.
„Im All wie auf der Erde gilt: Es braucht eine Gruppe von Menschen, um sich nicht einsam zu fühlen.“ Astronauten sind auch nur Menschen wie du und ich. Nur besser trainiert – zumindest in meinem Fall.
Das Buch ist bei S. Fischer erschienen, hat Seiten und kostet 18 Euro. Der Link führt auch zu einer Leseprobe und zu einem Interview mit der Autorin.
Thematisch passend:
- Das Unbewusste kennt keine Zeit (Rezension Cécile Loetz und Jakob Müller, “Mein größtes Rätsel bin ich selbst. Die Geheimnisse der Psyche verstehen”)
- Zivilisierte, heitere Verachtung (Rezension Carlo Strenger, Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit)
- Ausgelesen: Hans-Joachim Maaz, Die narzisstische Gesellschaft
- Ausgelesen: Hans-Joachim Maaz, Der Gefühlsstau. Psychogramm einer Gesellschaft
- Ausgelesen: Andreas Petersen, “Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte”
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