Bild zeigt BuchcoverIt’s all over now, baby blue, singt Dylan den Gelegenheiten hinterher, den genutzten und den verpassten. Jenny Erpenbeck beschwört in ihrem neuen Roman Kairos, den Griechen-Gott des richtigen Zeitpunktes.

“Kairos, der Gott des glücklichen Augenblicks, habe, so heißt es, vorn an der Stirn eine Locke, einzig an der kann man ihn halten.” Verweile doch, du bist so schön? Schön fängt alles an mit Katharina, 19, und Hans, 34. Jahre älter. Also 53. Katharina lernt Setzer beim Staatsverlag und will später Gebrauchsgrafik studieren. Hans ist ein halb berühmter Schriftsteller und verdient gut als fester freier Mitarbeiter beim Rundfunk. Die beiden sehen sich im Bus und entbrennen zueinander in einer Amour fou. Es folgen zelebrierte kleine Rituale und abgeknappste Augenblicke. Hans ist verheiratet und routinierter Fremdgeher; er und seine Ehefrau sehen jeweils nicht so genau hin. Wie sich herausstellt, hat Hans schon Katharinas Mutter und das schreiende Kind Katharina gekannt – wie man sich eben über den Weg läuft als Kader und Künstler in einem inzestuösen kleinen Land: “Er kennt all die alten Geschichten, jeder hat mit jeder mal was gehabt, erst waren sie jung, dann haben sie überkreuz Kinder gezeugt, haben geheiratet und sich wieder getrennt, waren verliebt, verfeindet, befreundet, haben intrigiert oder sich herausgehalten“. Wobei Hans nicht mit Katharinas Mutter intim war, immerhin.

Noch niemand hatte sich bis dahin mit Katharina vor dem Pergamon-Altar verabredet. Wenn Hans mit seiner Frau in den Urlaub an die Ostsee fährt, fährt Katharina hinterher und trifft ihn am FKK. Auch als sie ein Theaterpraktikum in Frankfurt/Oder ergattert, reisen sie so oft wie möglich zueinander. Bis Hans der Eifersucht verfällt und die Treffen zu quälenden Verhören werden – mit dem neuen Ritual der Übergabe einer mit Vorwürfen besprochenen Kassette. Und so wie die Liebe sich dahinschleppt und sich selbst zur Last wird, ergeht es auch dem Land.

Erpenbeck gesteht ihrer Figur Gedanken wie diesen zu: “Seltsam, denkt Katharina, dass ausgerechnet Aphrodite, die Göttin der Liebe, ihrem jugendlichen Gegner den mit einer zierlichen Sandale bekleideten Fuß so gnadenlos ins Gesicht setzt.” Hat je eine 19-jährige so gedacht? Vermutlich; Gedanken sind frei und wer kennt schon alle Ecken und Winkel in den Köpfen. Ich frage mich, was ich, auch schon 58, mit einer 34 Jahre jüngeren Frau anfangen sollte außer des Offensichtlichen. Nein, nicht ich frage mich das, das fragt sich allenfalls der Rezensent. Schließlich liest meine Frau und Gefährtin hier mit, und nicht jede ist so langmütig wie Hans’ Frau Ingrid. Aber selbst der Rezensent findet an der Vorstellung keinen Gefallen. Und während ich zu Anfang in den Roman jedes Mal steige wie in einen neuen Lieblingspullover, fängt die Wolle später zu kratzen an und ich telepathiere durch Zeit und Raum: Renn weg, Katharina. Du hast mehr verdient als diesen gelangweilten alten Sack voller Weltschmerz, Selbstmitleid und Altherrenphantasien.

Jenny Erpenbecks Großeltern Fritz Erpenbeck und Hedda Zinner waren selbst halb berühmte Autoren. Auch ihr Vater ist Schriftsteller, die Mutter Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin. Für den Roman hat Erpenbeck mit vielen Zeitzeugen gesprochen, schreibt sie. Der Leser darf also davon ausgehen, das Milieu der sozialistischen Bohème getreu gespiegelt zu sehen. In die Handlung des Romans eingebettet sind Namen wie der Fotograf Roger Melis oder der unvermeidliche Heiner Müller, die zu Hans’ Bekanntenkreis zählen. Der Rest der Kultur-DDR wird durch Lyrik, Platten oder Filme gewürdigt, die Hans und Katharina in ihren zusammengeklaubten Stunden genießen oder mit denen sie sich quälen: Ernst Busch, Hans Eisler, Konrad Wolf, Paul Dessau, immer wieder Brecht… Auch Hölderlins Fahnen klirren, so viel Erbe darf sein. Zum Schluss ist Katharinas Theater in Frankfurt geschlossen, der Künstlerklub Möwe hat auch zu und der Rundfunk ist abgewickelt. Die Proletarier haben sich nicht vereinigt und die Wissenschaftler nicht und die Künstler auch nicht.

Kairos’ Locke war zwei-, dreimal in Reichweite. Weder Katharina noch Hans haben zugegriffen.

Das Buch ist im Penguin-Verlag erschienen, hat 384 Seiten und kostet 22 Euro. Über den Link gelangen Sie auch zu einer Leseprobe.

 

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