Yana Milev umreißt in diesem Gastbeitrag einige Thesen ihrer jüngsten Veröffentlichung Das Treuhand-Trauma. Die Spätfolgen der Übernahme. Milev, 1969 in Leipzig geboren, ist promovierte Kulturphilosophin sowie habilitierte Soziologin und Ethnografin. Ihre Buchreihe Entkoppelte Gesellschaft stellt die Entwicklung in Ostdeutschland als soziologisches Laboratorium dar.
Yana Milev
Seit dem Ende der DDR wird um die Deutung der Vergangenheit gestritten. Der vorherrschende Ton ist anklagend und ideologisch durchdrungen, die verfolgte Absicht durchschaubar: Was zwischen 1945 und 1990 im Osten geschah, war ein einziges Verbrechen. Hingegen blühten im Westen Wohlstand und Demokratie. Hier der Garten Eden – da die Hölle. Die vorgenommene Verurteilung des gesellschaftlichen Gegenentwurfs im Osten dient der Legitimierung und der Erhebung des eigenen Systems. Gewiss ist die Frage zu stellen nötig und auch zu beantworten möglich, nämlich ob der reale Sozialismus auch einer war oder nicht. Wie eben die Frage zu stellen begründet ist, ob der Kapitalismus die Krone der Schöpfung und damit die Zukunft darstellt. Sie scheint inzwischen hinlänglich beantwortet.
Jenes übergreifende Moment beschäftigt mich als Soziologin nur insofern, als ich diese Tatsache als gegeben voraussetze. Ich beschäftige mich vielmehr mit den konkreten Erscheinungsformen, den Ursachen und den Folgen, deren Zeugen wir seit 1990 sind. Die Summe meiner Untersuchungen dieser Kulturkatastrophe fasse ich in Thesen, die ich mit Fakten zu belegen versuche. Zugegeben, meine Annahmen müssen vom hiesigen Mainstream – wer immer darin auch schwimmt – als Provokation empfunden werden. Denn meine Erkenntnisse weichen erheblich von dem Narrativ ab, das zweckdienlich von den meinungsbildenden Institutionen verbreitet wird. Dort herrscht nämlich die Haltung vor, die man der Propaganda der DDR vorwirft und gern mit der Liedzeile von Louis Fürnberg aus dem Jahr 1949 meint beweisen zu können: »Die Partei, die Partei, die hat immer recht.«
Nun räume ich gern ein, dass mir die Verbreitung meiner provokanten Thesen hierzulande nicht untersagt wird. Dem Grundgesetz sei Dank. Das vielleicht wird mancher Kritiker so deuten, dass ich mich mit diesemVerweis selbst widerlegte, weil doch darin die Annahme mitschwinge, in der DDR wäre derlei grundstürzender Widerspruch zu verbreiten gewiss nicht möglich gewesen. Dieser Bezug ist irrelevant. Der Gegenstand meiner Untersuchungen entstand ja erst durch das Ende der DDR und in der Zeit nach deren Hinscheiden. Allerdings erlaube ich mir den Hinweis, dass keine wissenschaftliche Einrichtung in Deutschland systematische Forschungen in dieser Richtung anstellt. Es gibt keine spezifischen Fakultäten oder Fachbereiche, allenfalls Professuren und Projekte, etwa in Jena (Heinrich Best, Klaus Dorre, Stephan Lessenig und Hartmut Rosa), in Görlitz/Zittau unter Raj Kollmorgen oder bei Constantin Goschler in Bochum. Ostdeutsche WissenschaftlerInnen sind in diesen Forschungsprojekten allerdings auch nur marginal vertreten, die Kapazitäten sind limitiert.
Untersuchungen gesellschaftlicher Prozesse im Osten pflegen allenfalls dann Zuwendung und Unterstützung zu erfahren, wenn sie denn bereits postulierte Urteile und Thesen bestätigen. Für den »Beweis«, dass die DDR ein »Unrechtsstaat« gewesen sei, wendet man seit drei Jahrzehnten Millionenbeträge auf, schuf Stiftungen und Bundesbehörden, alimentiert aufwändige Forschungsprojekte, Kolloquien und Konferenzen. Für den Nachweis einer miserablen, falschen Politik, die systemischen Charakters ist und im Wesentlichen in der westdeutschen Gesellschaft wurzelt, »fehlen« die Mittel.
Darum nimmt es nicht wunder, dass meine wissenschaftlichen Untersuchungen nicht in Deutschland, sondern im Ausland gefördert wurden. Ich promovierte in Wien und habilitierte mich an der Universität St. Gallen in der Schweiz. Die Neigung von Auftraggebern, sich von den Forschern das bestätigen zu lassen, was man ohnehin zu wissen glaubt, ist vielleicht ein Phänomen, das einem vornehmlich in politischen oder Wirtschaftskreisen begegnet, die das Sagen haben. In der DDR zum Beispiel schloss Honecker 1979 das Institut für Meinungsforschung, welches sein Vorgänger Ulbricht fünfzehn Jahre zuvor gegründet hatte. Es sollte mit repräsentativen Umfragen zuverlässigere Informationen über und aus der Gesellschaft liefern, als das staatliche und parteiinterne Berichtswesen es tat. Ein ungefiltertes Abbild der Wirklichkeit war jedoch immer weniger gewünscht, je weiter sich jene Wirklichkeit von den Wunschvorstellungen entfernte. Die Analysen, die das Institut lieferte, entsprachen nicht den eigenen Vorstellungen, also beseitigte man den Überbringer der Botschaft, statt die Politik zu ändern, wie das ursprünglich von den Institutsgründern gedacht worden war.
Jedoch greift hier die Vermutung zu kurz, dass es in Deutschland heute deshalb keine eigenständigen Sozialforschungen und -untersuchungen im und für den Osten gebe, weil deren Ergebnisse die offiziellen Darstellungen als das entlarvten, was sie sind: nämlich Propaganda. Das spüren die meisten Menschen ohnehin inzwischen. Es zeigt sich im schwindenden Vertrauen in Politik und Parteien und dem Verlust von Glaubwürdigkeit. Nicht erst das Hickhack um die Wahl des Ministerpräsidenten Thüringens im Februar 2020 offenbarte dies. Aber der Verlust an Glaubwürdigkeit etwa der Medien, die die Gesellschaft reflektieren, hat auch noch andere Gründe. »Journalismus ist im Kern Beobachtung, Berichterstattung, Kommentierung. Aber mittlerweile ist es vor allem Unterhaltung. Und zu viel Unterhaltung schadet eben der Wahrhaftigkeit – und also der eigenen Glaubwürdigkeit«, meinte der Schweizer Kommunikationsberater Andres Luther in der Neuen Zürcher Zeitung. Alles wird zum Boulevard.
Die Verweigerung einer intensiven und ergebnisoffenen Untersuchung sozialer Verwerfungen im Osten Deutschlands hat tiefer liegende Ursachen. Sie liefern Rückschlüsse auf die Entwicklungen in den neoliberalen Gesellschaften weltweit. Auch auf die in der deutschen Gesellschaft. Und offenkundig fürchtet man die Antworten. In der Schweiz, wo ich zu diesem Thema arbeite, natürlich auch. Aber man möchte gegensteuern. Um des inneren Friedens und des Machterhalts willen. Indem hier die Ursachen der in der Soziologie als »Entkopplung« bezeichneten Ausgrenzung, Unterdrückung und Bevormundung großer Teile der Bevölkerung erforscht werden, sucht man gleichzeitig nach gesellschaftlichen Modellen für die Zukunft, nach einer sogenannten Postwachstumsgesellschaft. Es geht um eine Zukunft, in der Ungleichheit vor dem Gesetz und soziale Konflikte minimiert werden. Eine Zukunft, die ohne neoliberale Schockstrategien und ihre gesellschaftlichen Demarkationslinien auskommt, die Marx und Engels als Erste »Klassenkampf« nannten, was inzwischen selbst Exponenten des Systems so sehen. Etwa der US-Amerikaner Warren Buffett, einer der reichsten Menschen der Welt. »Klassenkampf herrscht in den USA seit zwanzig Jahren, und meine Klasse hat gewonnen«, erklärte er 2014 – womit er sich einzig in der Zeit geirrt hatte.
Nach meiner Erfahrung ähneln sich die Gesellschaften in Japan – ich habe dort über zwei Jahre gelebt –, in der Schweiz und in Ostdeutschland. Für mich sind das drei Inseln in einer neoliberalen globalen Welt. Ich erlebte und erlebe in diesen Ländern und Regionen ein Gemeinschaftsgefühl, ein kollektives Selbstbewusstsein und einen solidarischen Zusammenhalt auf eine für mich vergleichbare Weise. Das mag widersprüchlich erscheinen. Gerade die Schweiz ist berühmt für ihre Finanzeliten und Kartelle, hier haben sich die größten Ganoven der Welt niedergelassen und stärken mit ihrem geraubten Kapital das hiesige Bankenwesen. Aber in den sozialen Feldern dominiert kein bürgerlich-elitäres Schaulaufen wie etwa in Westdeutschland und auch kein erkennbarer Ehrgeiz der Machteliten, Reichtum demonstrativ auszustellen (Ausgenommen die dort ansässigen reichen Russen und Deutschen.) Auf der Straße in Zürich kann man unter den Fußgängern nicht unterscheiden, wer Multimillionär und wer ein kleiner Behördenangestellter ist. In Japan ist es ähnlich.
Wie die westdeutschen Verhaltensmuster auf Ostdeutschland übertragen wurden und mit welcher Absicht, beschreibe ich in meiner Forschung. Exemplarisch machte das auch eine 1984 in Weimar geborene und nunmehr für eine große westdeutsche Zeitung tätige Journalistin Anfang 2020 in einem erhellenden Beitrag sichtbar. Weimar sei heute »ein Abbild des großen Deutschlands: Die Machtelite kommt aus der alten BRD. Bauunternehmer, Vermieter und Jetset-Kunstfest-Chefs sind aus dem Westen, der Chef der Sparkasse, der Leiter der Bauhaus-Universität und der Franz-Liszt-Musikschule. Fast alle Unternehmen mit mehr als zehn Mitarbeitern“, so die Autorin Hünniger, „werden von Westlern geleitet – und die wichtigsten Posten seit dreißig Jahren an andere Westdeutsche weitergegeben.“ Wie in Gesamtdeutschland bliebe der Westen auch in Weimar am liebsten unter sich. Wie solle man einem Ostdeutschen auch erklären, dass man seine Kinder aufs Internat nach Salem schicke, was etwa 35.000 Euro im Jahr kostet. „Ferienhäuser am Meer, das große Erbe, die neue Immobilie in Berlin oder der großzügige Skiurlaub – das alles klingt unschön in ostdeutschen Ohren. Und deshalb erzählt man es natürlich am liebsten seinesgleichen.“
Aus solchen und vielen anderen Beobachtungen ist für mich zwingend, dass beispielsweise Soziologen sich nicht auf die Beschreibung von Zuständen beschränken, sondern sich mit ihren Einsichten auch gesellschaftlich stärker engagieren sollten. Auch deshalb arbeite ich an einer Politischen Soziologie und Politischen Psychologie der „Wiedervereinigung“. Basierend auf der Analyse sehr vieler Untersuchungen, Befragungen, Studien und Statistiken stellt diese die seit dreißig Jahren propagierten Narrative des Einigungsprozesses grundsätzlich in Frage.
In kürzerer Form war dieser Text zunächst in der Zeitung Neues Deutschland erschienen.
Informationen zum Buch beim Verlag Neues Berlin
Siehe außerdem:
Ausgelesen: Yana Milev, Umbau
Ausgelesen: Yana Milev, Demokratiedefekte
Ausgeschlossen! Ein Gastbeitrag von Yana Milev
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