Wer an die Schweiz denkt, denkt nicht an Revolution. Er denkt an Berge, Banken, Schokolade. An Heidi, Ruhe und Beständigkeit. Und doch hat sich von dort 1917 Lenin aufgemacht, um erst Russland und dann die Welt zu erschüttern. Yana Milevs Bücher reisen nicht im plombierten Wagen an. Aber ihre mit Förderung durch Institute der Schweizer Hochschulen HSG und ZHDK entstandene Reihe Entkoppelte Gesellschaft ist explosiv mit Tendenz zu revolutionärem Potential.

Dem gängigen Narrativ der deutschen Einheit setzt die Soziologin und Kulturphilosophin Milev eine andere Erzählung entgegen. Löbliche Taten, bei denen unabsichtlich etwas schiefgelaufen ist? Milev stellt fest: Oft war das Schieflaufen Absicht und eigentliches Ziel. Die Belege dafür liefert sie in ihrer Reihe Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90. Das mehrteilige publizistische Projekt ist Resultat eines Forschungsprogramms über Liberalisierung und Widerstand in Ostsdeutschland. Und laut Untertitel ein soziologisches Laboratorium. Aktuell ist Band 2 erschienen: Umbau.

In dessen Einstieg beschreibt Milev ihr Gesamtprojekt als “Soziologie der Landnahme, des Gesellschaftsumbaus und des strukturellen Kolonialismus in Ostdeutschland”. Und den “Aufschwung Ost” als Laborfall der Globalisierung. Dessen Euphemismen Transformation, Modernisierung und Demokratisierung über neoliberale Annexion hinwegtäuschen. Damit ist die Tonlage gesetzt.

Die Einverleibung, Abwicklung und Privatisierung der DDR und die Abwertung von Ostdeutschen seziert der Umbau dann an vielen Beispielen. Dabei analysiert er das Einrücken der Gesetzeskraft des Kernstaats in das Beitrittsgebiet. Und arbeitet heraus, dass die Ermächtigung für die Übernahme der DDR nicht von der DDR-Bevölkerung erteilt wurde. Sondern manipulativ erschlichen worden ist. Das Beharren auf Begriffen wie Unrechtsstaat verhindere die Aufarbeitung des multiplen Unrechts, verursacht seit 1990 durch das “CDU-Regime” im Beitrittsgebiet. Dass das als demokratisch dargestellte Primat der Märkte in seiner Suprematie ähnlich funktioniere wie die Suprematie der ehemaligen Staatspartei SED, habe traumatische Spuren auf wirtschaftlicher, psychosozialer und erinnerungskultureller Ebene hinterlassen. Und im Osten den zunehmenden Bruch mit Demokratie und Staat zur Folge.

Verträge, Gesetze, Interessen

Milev beginnt mit der außenpolitischen Einordnung der Wiedervereinigung – ohne Staatsneugründung, verfassungsgebende Versammlung und Friedensverträge sei Deutschland weiterhin ohne Staatssouveränität. Der 2+4-Vertrag hat den Truppenabzug der sowjetischen Streitkräfte geregelt, aber nicht den Besatzungsstatus duch die West-Alliierten beendet. Weil Militärbasen der USA als deren exterritoriales Gebiet gelten, käme dort US-Recht zur Anwendung – Milev nennt den NSA-Überwachungsskandal. Das UN-Konzept der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect), wonach Staaten zum Beispiel eine Pflicht zur Beseitigung von Menschenrechtsverletzungen in Drittländern hätten, sieht sie in der Praxis als Einfallstor zur Schaffung neuer Märkte und Maximierung von Profiten.

Im Abschnitt Gewalten analysiert Milev die fünf Staatsverträge rund um die deutsche Einheit. Und attestiert, die Staatensukzession hin zur vergrößerten BRD habe Völker-, Staats-, Verfassungs- und Menschenrechte zumindest verletzt, wenn nicht gar gebrochen. Für letztere Rechtsgüter nennt sie u.a. das Verbot der Diskriminierung, aber auch das Recht auf Arbeit und gleichen Lohn sowie Grundrechte wie den Schutz der Menschenwürde. Im Abschnitt Vollstreckung greift Milev dann zu Begriffen des Wirtschaftsrechts, um die Abwicklung und Löschung der DDR unter Regie der Treuhand zu beschreiben.

Industrie, Landwirtschaft, Medien, Kultur, Wissenschaft, Raum – Privatisierung vor Sanierung. “Niemand im Westen war an einer Modernisierung in der Post-DDR interessiert, sondern maximal an einer partiellen bis totalen Übernahme des Produktiveigentums durch Konzerne im Westen.” Dabei seien nicht nur Betriebe ausgelöscht worden, sondern mit ihnen ganze Lebensräume und Lebensperspektiven – Kindergärten, Ferienlager, Bibliotheken, das kommunale Umfeld wie etwa in Bischofferode.

Die Liste der von der Treuhand AG liquidierten Volkseigenen Betriebe und Produktionsgenossenschaften umfasst im Buch 64 Seiten – vom VVB Altrohstoffe, Berlin, Thulestraße 7 bis zum VEB Zwickauer Maschinenfabrik, Reichenbacher Str. 25/27. Danach folgt die Liste der von der Treuhand liquidierten oder teilübernommenen Kombinate.

Auch nicht fröhlicher stimmt die Liste der vollstreckten und gelöschten Verlage. Von ehemals 78 bestehen noch 12. Weitere gibt es als Namenshüllen oder Zulieferer ohne eigenes Editionsprogramm für westdeutsche Mutterhäuser. Auch von den ehemals 1.770 Zeitungen, Zeitschriften, Journalen und Magazinen haben die wenigsten überlebt. Milev hat 382 größere untersucht und 40 gefunden, die noch oder wieder erhältlich sind. Herausgeber sind meist Medienhäuser aus dem Westen. Die Auslöschung der bestehenden Kulturlandschaft, die verordnete Säuberung der Wissenschaft sind weitere Folgen der Geiselnahme des Ostens durch die D-Mark.

In Geiselhaft der starken Währung

„Kommt die DM, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!“ Erinnert sich jemand? Das Transparent wurde erstmals auf einer Montagsdemo in Leipzig im Februar 1990 gezeigt. Von Milev zitierte Zeitzeugen erinnern sich, dass das Transparent nicht von den in der DDR üblichen billigen Latten gehalten wurde, sondern von Bambusstöcken, wie sie auch bei Kohls berühmter Kundgebung in Dresden als Halter für die vielen schwarz-rot-goldenen Fahnen massenhaft aufgetaucht waren.

Was wohl sonst noch aus dem Westen geliefert wurde, um die Meinung zu formen? Die DDR musste 4,40 Mark aufwenden, um im West-Export 1 DM zu erlösen. Mit der Währungsumstellung 1:1 war die DDR nicht mehr konkurrenzfähig. Das wäre aber auch in Österreich nicht anders gewesen, wenn dessen Schilling 1:1 umgestellt worden wäre, konstatiert das Buch. Die in Medien verkündete Zahlungsunfähigkeit der DDR habe wie ein Trick gewirkt, der die Menschen zur DM überlaufen ließ. Damit sei auch die Revolution gekauft worden.

Späte Folgen der Schock-Eingriffe
Wirtschaftlicher Schock, sozialer Schock und die andauernden Folgen: von der Verfestigung einer „Zone der Armut“ im Osten über eine deutlich höhere Arbeitslosenquote, Einkommensungleichheit, Ausschluss Ostdeutscher aus gesellschaftlicher Gleichstellung, Kulturkolonialismus. Das Buch bettet seine zahlreichen Fakten in einen wissenschaftlichen Zusammenhang. Es punktet dabei auch mit dem Abdruck zahlreicher Dokumente, von Vertragstexten bis zu den Antworten auf Kleine Anfragen im Bundestag oder dem Schürer-Papier.

Nebenher wird geklärt, ob die DDR pleite war – nein, war sie nicht. Aber “sie hatte keine Chance” durch das veränderte politische Umfeld in Osteuropa und die Entkoppelung aus dem RGW, so Christa Luft, Wirtschaftsministerin in der Modrow-Regierung in einem ebenfalls abgedruckten Interview.

Das Buch endet mit dem Ausblick auf die Zukunft Ostdeutschlands. Er besteht aus einem einzigen  Wort: Fortschritt. Ironischerweise abgebildet als Logo des längst abgewickelten Kombinats Fortschritt Landmaschinen. Und dennoch in seiner Bildkraft optimistisch.

“Das Bürgerliche Gesetzbuch zum Schutz des Privateigentums gilt ab 1990 auch für ehemalige DDR-Bürger, die 40 Jahre im Volkseigentum lebten und demnach kein Privateigentum besaßen, was einer Farce gleichkommt.” Milev hat ein anklagendes Buch geschrieben. Sie hat recht damit.

Das Buch ist im Verlag Peter Lang erschienen, hat 494 Seiten und kostet 79,95 Euro.

 

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