Karfreitag. Der Tag, an dem Jesus ans Kreuz geschlagen wurde. Was manche seiner Anhänger noch knapp zweitausend Jahre später behaupten ließ, jeder Jude hätte dafür zumindest einen Nagel gereicht. Derweil hämmert an die Türen der Kirchen, klopft an jede Tür in jedem Land die Pandemie. Eine passende Zeit, um nach dem Sinn zu fragen.
Wohl dem, der für solche Fragen ein gutes Gerüst zur Hand hat. Zum Beispiel Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Das Leben in der globalisierten Welt sinnvoll gestalten. Der Autor ist Carlo Strenger (1958-2019), ein schweizerisch-israelischer Psychologe, Philosoph und Psychoanalytiker.
Immer ist jemand besser
Im Zentrum seines Buchs stehen die Nöte des Homo Globalis – des modernen, globalisierten Menschen. Strenger versteht darunter “die große Gruppe der Menschen, deren Identitität in erster Linie dadurch definiert ist, dass sie Teil des globalen Infotainment-Systems sind”.
Durch ein ständiges Ranking sei der Homo Globalis selbst Ware, die rund um den Globus gehandelt werde. Der Zwang zum Vergleichen führe zu einer dauerhaft instabilen Selbstachtung und zu Zweifeln daran, ob das eigene Leben sinnvoll und erfüllt sei. Das eigene Selbst werde als ständiges Design-Projekt mit weit nach oben offenen Möglichkeiten aufgefasst, an deren Realierung die Menschen dann wegen inviduell unterschiedlicher Gegebenheiten und unzutreffender Bezugsrahmen regelmäßig scheiterten. Zur Illustration verwendet der Autor Werbekampagenen von Nike (Just do it) und Adidas (Impossible is nothing).
Strengers Buch ist prophetisch: Es ist auf Englisch erstmals 2011 erschienen, als die Omnipräsenz der Social Media nur zu erahnen war. Für den Ausweg aus dem Dilemma steigt Strenger hinab in die Schluchten und Pfade der Philosophie, der Psychologie, der Soziologie, der Ökonomie – also der Aufklärung. Er nimmt Anleihen bei Epikur, bei den Existentialisten von Heidegger bis Sartre, bei der Existentiellen Psychoanalyse. Sie führen ihn und den Leser vom “just do it” zu aktiver Selbstakzeptanz. Mit diesem Begriff meint Strenger zum einen das vom Philosophen Karl Jaspers bezeichnete “Sosein” als unveränderlichen Kern eines Menschen. Erweitert um die Möglichkeit, den Ruf zu akzeptieren “das zu sein, was wir sein können” – der Beginn der Selbsttransformation. Strenger erläutet diese Entwicklung auch an einem seiner Patienten, der von Selbstverachtung über Selbsterkenntnis zu Glück in seiner Ehe und neuer beruflicher Schaffenskraft gefunden hat.
Ostdeutsche Leser werden sich hier an die umfassenden Versprechungen der Nachwendezeit erinnern, als jeder seines eigenen Glückes Schmied sein sollte. Woraufhin die eine Hälfte Ostdeutschlands bei der anderen auf der Couch saß und versuchte, Versicherungen oder Kosmetika zu verkaufen. Ehe sie dann doch feststellen musste, dass von den tausend Möglichkeiten der Selbstverwirklichung für sie selbst vielleicht höchsten drei oder vier zutrafen (und auch von denen war es für zwei schon zu spät).
Merkwürdige Allianzen für politische Korrektheit
Ebenso bezugreich ist der Gedankenstrang im Buch, der sich an verschiedener Stelle dem Phänomen der politischen Korrektheit widmet: dem Zurückweichen vor Diskussionen um kulturelle und Glaubensfragen. Strenger sieht die Gründe für diesen Anti-Intellektualismus in einer merkwürdigen konservativ-liberalen Allianz. Von konservativer Seite beigesteuert sieht er eine Verachtung für kritische intellektuelle Debatten, befeuert von einem Anstieg des christlichen Fundamentalismus, sowie den Glauben an eine Wirtschaft frei von Regulierung. Von liberaler, linker Seite dazu beigetragen habe die Verachtung gegenüber allem, wofür der Westen steht – als eine Welt der “toten weißen Männer”. Die liberale Identitätspolitik habe klare Argumentation und Analyse durch eine neue Form des Wettbewerbs ersetzt: “Verschiedene Gruppen wetteiferten miteinander um die zweifelhafte Ehre, diejenige Gruppe zu sein, die am meisten unterdrückt, benachteiligt und traumatisiert war.”
Auch für den Umgang mit besonders absurden Ansichten innerhalb von Glaubenssystemen hat Strenger ein Rezept: “Zivilisierte, heitere Verachtung könnte ein Verhaltensmodell sein, das alle Idelogien – religiöse und säkuläre – akzeptieren könnten.” Ein bisschen mehr Groucho statt Karl im Marxismus – das hält auch der Rezensent für eine gute Idee.
Verständlich aufbereitete Philosophie und Psychoanalyse, angewandt auf Probleme der heutigen Zeit: Das ist lehrreich und regt an, im eigenen Bücherregal nach Philosophen zu kramen.
Das Buch ist im Psychosozial-Verlag erschienen, hat 323 Seiten und kostet 34,90. Der Link im vorigen Satz führt auch zu einer Leseprobe.
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