Foto des BuchcoversEugen Ruge spürt anderthalb Jahren im Leben seiner Großmutter und seines (Stief-) Großvaters nach. Gestützt auf Archiv-Materialien, webt er eine Familiensaga aus der Zeit des Stalinschen Terrors.

Vielleicht hätte es ein entspannter Urlaub am Schwarzen Meer werden können. Weg vom Nachrichtendienst der Kommunistischen Internationale mit seinen Tarnnamen, vom Schlangestehen, von der Parteiarbeit. Gerade hatte Stalin verkündet: “Das Leben ist besser, das Leben ist fröhlicher geworden!” In Moskau machen staatliche Mode- und Kosmetikgeschäfte auf, man schminkt sich wieder. Aber dann liest Charlotte auf dem Dampfer in der Deutschen Zentralzeitung über einen Prozess gegen Verräter. Und findet dort einen Bekannten erwähnt – als einen vom Ausland gesandten Agenten Trotzkis an der Spitze einer von  Faschisten organisierten Kampfgruppe. Charlotte findet es absurd: Ein Jude an der Spitze einer faschistischen Terrororganisation? Aber das Räderwerk hat zu klicken angefangen.

Was müssen, was können sie und ihr Mann jetzt unternehmen? Müssen sie der mitreisenden jungen Genossin (Objekt der Begierde eines Vorgesetzten) von der Bekanntschaft mit dem Verräter erzählen, um sich vor dem Verdacht zu schützen, heimlich mit ihm zu paktieren? Müssen sie ein Selbstbezichtigungsschreiben aufsetzen? Sie tun beides. Und landen, von ihren Komintern-Posten entfernt, im Hotel Metropol, 1936 eine Zwischenlagerstatt für verdächtige Genossen, berühmte Besucher (im Nebenzimmer logiert Lion Feuchtwanger) und verdiente Häscher des Volkes. Dort warten sie 477 Tage darauf, was Stalins Menschenmahlwerk mit ihnen anstellen wird.

Charlotte und Wilhelm sind dem Leser schon aus Ruges “In Zeiten des abnehmenden Lichts” bekannt, dort vor allem als Mexiko-Emigranten und verdiente Genossen. Die von ihnen in der Familie beschwiegenen sowjetischen Jahre zeichnet Ruge jetzt nach. Dabei stützt er sich auf Charlottes Kaderakte. Der Prolog schildert den Zugriff darauf als Labyrinth durch eine kafkaeske Bürokratie. Dialoge und Gedanken des Buchs werden regelmäßig durch Fundstücke aus den real existierenden sozialistischen Akten gestützt: “Werter Genosse Müller! Es sind jetzt 6 Monate her, dass ich von meiner Arbeit entfernt wurde…  Sie werden verstehen, dass es nicht leicht ist, bei dem Bewusstsein, nichts gegen die Ehre eines Kommunisten, gegen die Linie der Partei getan zu haben, von allem gesellschaftlichen Leben im Zentrum des Stalinismus ausgeschlossen zu sein.“

Schweine und arme Säue
Sein Panorama entfaltet das Buch entlang der Erlebnisse dreier Protagonisten. Neben Charlotte gehört dazu Wilhelms erste Ehefrau, Hilde, eine Lettin. Sie weiß um die Bekanntschaft ihres Ex-Mannes mit dem verfemten angeblichen Trotzkisten. Soll sie ihn melden? Und ging diese Bekanntschaft nicht eigentlich von dessen neuer Frau aus, um deretwillen sie von Wilhelm verlassen worden ist? Sie setzt sich an die Schreibmaschine – und findet die innere Entschuldigung, dass Wilhelm als aufrechter Kommunist den Kontakt sicherlich bereits selbst gemeldet hat.

Weiter oben in der Hackordnung des Terrors steht Wassili Wassiljewitsch Ulrich, Vorsitzender des Militärkollegiums des Obersten Gerichts. Todesurteile unterzeichnet er wie im Akkord. Persönliche Bestleistung: hundertachtunddreißig Todesurteile in zwei Tagen. Immer in der Angst, dass es auch ihn erwischt. Eine starke Szene schildert, wie Ulrich sich zur Frau eines Verhafteten fahren lässt: sexuelle Gefälligkeiten im Austausch gegen die Hoffnung auf Gnade für den Ehemann. Auf den letzten Fußmetern bekommt er Angst vor herumlungernden Halbstarken, rennt vor ihnen weg, zwängt sich durch einen Zaun, dessen Latten seine Orden abreißen, schleicht in die Wohnung. “Sag etwas Schweinisches!“ Die Frau ist willig, er kann physisch nicht. Im Film “Der Tod Stalins” lässt das Drehbuch Berija über Frauen verhafteter “Staatsfeinde” sagen, sie würden “wie Nähmaschinen ficken.“

Der ausführliche Epilog geht auf das Schicksal weiterer Personen des Romans ein. Randnotiz: Das Metropol ist mittlerweile ein luxuriöses Hotel.

Das starke, lesenswerte Buch zeigt, wie gute Absichten und große Hoffnungen in Zynismus und Selbstbetrug umschlagen. Einem Satz Charlottes scheint die Gegenwart dabei eine ganz eigene Aktualität zu verleihen: “Wer nichts zu verbergen hat, der hat auch nichts zu befürchten.“ Sie wollen ja alle immer nur das Beste für die Menschen, ob die im Politbüro oder die mit den Daten-Plattformen.

Das Buch ist im Rowohlt-Verlag erschienen, hat Seiten und kostet 24 Euro. Am 22.10. liest Eugen Ruge im Waschhaus Potsdam. Weitere Termine stehen hier.

Auch interessant:
Angesehen: The Death of Stalin
Ausgelesen: Andreas Petersen, Die Moskauer

 

Einen Kommentar hinterlassen

Your email address will not be published.

You may use these HTML tags and attributes: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <strike> <strong>