Bild zeigt BuchcoverYana Milev legt den sechsten Teil ihres Mammut-Werks Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90 vor. Zeugnisse II widmet sich dem Medium Film. Kundig, detailliert, berührend.

Mitherausgeber des Werks sind Philipp Beckert, Michael Meyen und Marcel Noack. Der Fotograf Beckert war bereits an Zeugnisse I beteiligt, das sich mit Fotografie befasst. Für Zeugnisse II hat er seit 2016 Beiträge zur späteren Auswahl gesammelt. Noack hat den Band in das markante Layout der Reihe gebracht. Zeugnisse II widmet sich in vier großen Abschnitten den Filmen im Osten Deutschlands, vom Ende des Kriegs bis zum Überleben in der Bundesrepublik. Ostfilm wäre dabei ein zu kleiner Begriff für so große Filme – zumal das Buch auch sowjetische Produktionen und die Exilfilme von Tarkowski einbezieht.

Mehr als die üblichen Verdächtigen
Gegliedert ist das Werk zeitlich in weitgehender Analogie zu Zeugnisse I. Die Abschnitte: Ende + Anfang (1945– 1949), Aufbau + Aufbruch (1949 – 1989), Umbruch + Über/Leben (1982 – 2002) und Neuland + Exil (2002 –2022). Zusätzliche Specials bereichern die Darlegungen. Pars pro toto: Die drei Themenspecials im Abschnitt 1949 – 1989 behandeln “Zensierte und verbotene DEFA-Filme in der DDR”, “Zensierte und verbotene DEFA-Filme in der BRD” und den filmischen Untergrund in der DDR als Gegenöffentlichkeit. Die Zensur in der Bundesrepublik dürfte dabei für viele Filmfreunde ein kaum bekanntes Terrain sein. Mir kommt die Verstümmelung des Films Casablanca in den Sinn. Die Kinofassung der Bundesrepublik kürzte aus dem Film die Nazis weg. Statt um antifaschistischen Widerstand ging es um um Delta-Strahlen. Verhaftet die üblichen Verdächtigen? Zu denen gehört die deutsche Niederlassung des Warner-Brothers-Filmverleihs. Sie empfand das ursprüngliche Sujet des Films als ungeeignet für einen kommerziellen Erfolg in Deutschland. Und statt Haft sind eher Bundesverdienstkreuze zu vermuten. Erst 1975 strahlte die ARD den Film ohne die großen Kürzungen und mit neuer Synchronisation aus. Doch zurück zum Buch: Die staatliche Zensur in der Bundesrepublik besorgte von 1953 – 1966 ein Interministerieller Ausschuss für Ost-West-Filmfragen. Zensiert oder verboten hat er nicht nur propagandistische Filme wie Ernst Thälmann (1954, Regie: Kurt Maetzig), sondern auch Wolfgang Staudtes Der Untertan (1951), Maetzigs Der Rat der Götter (1950), Konrad Wolfs Professor Mamlock (1961), Gerhard Kleins Der Fall Gleiwitz (1961) und sogar Helmut Spieß’ Märchenfilm Das tapfere Schneiderlein (1956). Womöglich, weil der Held eine Magd der Königstochter vorzieht, wie eine Mail an Milev unter Bezug auf eine halb ironsche Spiegel-Bemerkung mutmaßt.

Das Buch beginnt mit Der Fall Gleiwitz, unterfüttert mit Erinnerungen des Drehbuchautors (neben Günther Rücker) Wolfgang Kohlhaase. Und endet mit einem Themenspecial zur Babelsberger Schule des Dokumentarfilms. Dazwischen findet der Leser Filme, die er gern gesehen hat, die er sehen wollte, was er aber aus dem einen oder anderen Grund nicht geschafft hat, und von denen er nie gehört hat. Wie Das Pflugwesen entwickelt sich, im Titel eine Anspielung auf Michael Sostschenkos Die Kuh im Propeller, in der DDR bekannt geworden durch Manfred Krug. Beim Inhalt geht’s um ein Wettpflügen im RGW, dem Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Selbst die Netflix-Serie Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit findet im Buch einen Platz und eine kenntnisreiche Rezeption (Daria Gordeeva im Treuhand-Special).

Nicht-Orte und Ideologien
“Was hier versinkt ist eine Utopie”, schreibt Grit Lemke über ihr Gundermann Revier. Ideale Welten sind in Zeugnisse II auch anderswo nicht zu haben. Günther Jordan etwa thematisiert en passant den Einbau von subversiven Botschaften als “eine oft hochartifizielle Subkultur, die sich nicht eingestehen mochte, eine Existenzform der heimischen Provinz zu sein”. Alles versunken? Mitherausgeber Michael Meyen, im Hauptberuf Professor für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung in München, zitiert in seinem Vorwort Václav Havel. Havel versteht Ideologie als “Machtinterpretation der Wirklichkeit”, den Interessen der Macht untergeordnet und mit der Tendenz zu einer Welt des Scheins. Schaffen Filme den Schein, spiegeln sie ihn, brechen sie ihn, wehren sie ihn ab? Man lese die Einzelfälle. Und Havels Zitat beamt nebenher die Ideologie  aus muffigen leninistischen Zirkeln in die Machtkammern der Gegenwart.

Sozialwissenschaftler deuten die DDR, deren Ende und die Transformation der alten in die neue Gesellschaft (die ja selbst oft alt bis veraltet wirkt) verschieden. Die noch meistgekaufte Interpretation ist die vom Unrechtsregime und Pleitestaat DDR, den Dissidenten im Osten und den Demokraten im Westen. In dieser Lesart sind die fauligen Triebe der Transformation bedauerliche, aber unvermeidliche Nebenwirkungen beim Pflanzen blühender Landschaften. Wahlerfolge unappetitlicher Parteien in Ostdeutschland ordnet sie nicht diesen Miasmen zu, sondern einem nachwirkenden Rassismus und angeblich nur behauptetem Antifaschismus der DDR. Yana Milev hat als eine der Ersten wissenschaftlich dagegengehalten. Sie hat die Kolonialisierungsaspekte der Transformation herausgearbeitet, die Abwertung ostdeutscher Lebensläufe, die Vernichtung des sozialen und kulturellen Kapitals im Osten: “Das Resultat der neoliberalen Annexion der DDR ist die privatisierte Stadt, der aufgekaufte Sozialismus, das unbezahlbare Leben und das Verschwinden von sozialen Feldern. Die Entkopplung von Lebens- und Arbeitswelten macht die Exil-Ostdeutschen zu Einwanderern im eigenen Land. Ihr Prekärsein bemisst sich am Ausmass der gesellschaftlichen Herabsetzung, des verordneten Vergessens und des herrschenden Kulturkolonialismus”, schrieb sie in einem früheren Band der Entkoppelten Gesellschaft.  Unter die Großsoziologen wird Milev es womöglich nicht mehr schaffen, aber das, was sie anbietet, ist große Soziologie.

42 Regisseure, 51 Autoren. Welch ein Gedankenreichtum. Und falls jemand einen Film vermisst: Keine Schatzkammer bietet Platz für alle Preziosen.

Das Buch ist im Wissenschaftsverlag Peter Lang erschienen, hat 813 Seiten und kostet 122 Euro.

Weiterführende Lektüre:
Vom Aufbau ins Exil (Rezension des Bands Zeugnisse I)

 

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