Bild zeigt BuchcoverDie Herausgeber Yana Milev, Philipp Beckert und Marcel Noack haben Bilder gesammelt: aus der DDR, ihrem Untergang und dem Leben nach dem Tode. Essays ordnen die Bilder ein: “Zeugnisse. Teil I: Fotografie”.

Der fünfte Teil aus Milevs Reihe “Entkoppelte Gesellschaft” ist der am leichtesten zugängliche. Auch er ist wieder ein Trumm von einem Buch. Aber wo sich die bisherigen Bände durch Thesen, Belege, Statistiken, Querverweise gewühlt haben, lässt dieser Bilder sprechen. Der leichte Zugang lädt ein. Er öffnet Erinnerungswelten. Der Betrachter wird innehalten, die Bilder im Buch mit denen im Gedächtnis abgleichen, beim Lesen der zugehörigen Essays nicken oder sich reiben an den Gedanken. (Schade, dass Reibungswärme nicht die Energiekosten senkt.)

Zum Beispiel bei den Fotos Thomas Uhlemanns vom letzten Pfingsttreffen der FDJ im Mai 89. Und den begleitenden Erinnerungen eines damals 16-jährigen namenlosen Teilnehmers, angereist aus Rostock im Barkas, untergebracht in einem Ferienlager und nach vielem Proben dann beim Kulturprogramm im Stadion der Weltjugend dabei.  Rosenthaler Kadarka gegen den Geschmack der herumgereichten Club-Zigarette. “Ein Hauch von Woodstock, Flower Power, Liebe und Freiheit lag in der Luft, nicht mit Batik-Gewändern und Jesuslatschen, sondern Blauhemd und FDJ-Abzeichen.” Oder beim Betrachten der Bilder Harald Kirschners aus der Platte in Leipzig, Stimme der DDR hatte sein Buch rezensiert. Eva Mahn ist vertreten in Ansichten von Akt-Plenairs, bei denen sie von  Renate und Roger Rössing fotografiert wurde, und mit einer Porträtserie. In ihrem Kommentar “Nichts ist mehr, wie es war” schreibt sie vom Dableiben in einer Trotz-alledem-Kultur, von der Euphorie der Demokratisierung, dem neuen Regulativ des Geldes. “Alles ist wie eh und je” setzt Hans-Georg Sehrt dagegen in seinem anschließenden Blick auf Mahns Arbeitsweise.

Vom Aufbau ins Exil
Gegliedert sind die Zeugnisse in drei Teile und 18 Kapitel: Aufbau+Aufbruch (1949 – 1989), Umbruch+Über/Leben (1990 – 2001), Neuland+Exil (2001 – 2020). 17 Fotografen steuern die Bildserien bei, darunter die Herausgeber. Yana Milev zum Beispiel zeigt Fotos von einem Gleisbettumbau in Dresden 1992. Bilder von geborstenem Stein und verformten Metallschlangen, die sie auch in ihre Installation auf der Documenta X aufgenommen hatte. Christoph Tannert beschreibt die Installation dann in seinem Essay. Nah an der Arbeit sind Ralf Anders’ Bilder aus dem VEB Maschinenbau Görlitz. Ein Arbeiter mit Schutzhelm steht selbstbewusst da, hat die Hände in die Seiten gestützt und spricht lachend mit seinen sitzenden Kollegen. Im Anschluss beschreibt Hans-Joachim Lauck, ehedem Werkdirektor im Stahl- und Walzwerk Brandenburg, wie Betriebe auch eine Funktion für die Kommune hatten – von Straßenreinigung bis Betriebssportgruppe.

Überhaupt, die Texte. Manche wurden für den Band geschrieben, andere sind ältere, die thematisch passen. Paul Dessaus “Weltbild“-Erinnerungen bereichern die Porträtfotos Evelyn Richters, die ihn zeigen. Die Herausgeber unternehmen mit diesem Werk eine Visuelle Soziologie. Darunter verstehen sie die Erweiterung des Diskurses um die Dimension der Visualisierung und “des für sich stehenden Bildes” – also ein Untersuchungsverfahren, das sich auf die Fotografie und die Reportage stützt.

Die Positionen der Texte variieren wie die der Autoren. Jörg Roesler bescheinigt der Bundesrepublik in “Großes Geschacher”, 1990 souverän geworden zu sein. Yana Milev sieht in “Verordnetes Vergessen” die USA bis heute mit unbeschränkten Kontrollrechten ausgestattet.

Als Appetitanreger hier alle Namen der 17 im Band vertretenen Fotografen: Christian Borchert, Ralf Anders, Evelyn Richter, Harald Kirschner, Eva Mahn, Renate und Roger Rössing, Thomas Uhlemann, Maria Notbohm, Jens Rötzsch, Yana Milev, Barbara Klemm, Maix Mayer, Andreas Rost, Philipp Beckert, Marcel Noack, Jürgen Matschie. Folgende Autoren bereichern die Bilder mit Essays, Interviews, Erinnerungen, Analysen: Heinz Czechowski, Matthias Flügge, Hans-Joachim Lauck, Paul Dessau, Wolfgang Kil, Eva Mahn, Hans Georg Sehrt, Andreas Raabe, Kurt Schneider, Jörg Roesler, Christoph Tannert, Renate Rauch, Bertram Kaschek, Peter Gosztony, Christina Bogusz und die Herausgeber selbst. Grußworte steuern Peter Weibel (Vorstand Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, ZMK) bei und Silke Wagler (Leiterin des Kunstfonds der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden).

Das Buch lohnt die Beschäftigung. Nicht jeder Leser mag allem zustimmen. Wie schon mit ihren anderen Bänden der Buchreihe “Entkoppelte Gesellschaft” wuchtet Yana Milev der dominanten, verkürzenden Erzählung der DDR als einer Diktatur und eines Unrechtsstaats ein anderes Narrativ entgegen: das einer Gesellschaft, deren revolutionärer Aufbruch 1989 für viele im Osten Deutschlands zum Verlustgeschäft wurde. Weil sie ihr soziales und kulturelles Kapital aberkannt bekamen und es damit beim großen Monopoly meist nur für die billige Badstraße reicht und nie für die Schlossallee. Für Plätze auf der Anklagebank statt für den Vorsitz im Oberlandesgericht.

Drei Dutzend Zeugen haben ihr Zeugnis abgelegt. Das Urteil bildet sich im Auge der Betrachter.

Das Buch ist im Verlag Peter Lang erschienen, hat 690 Seiten und kostet 114,95.

 

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