Kiew im Frühjahr 1919. Die Stadt ächzt. Bleiben die Roten, kommen die Weißen – und was wäre besser? Der Auftakt einer Krimireihe um den jungen Milizionär Samson.
Denikin und die Weißgardisten, Hetman Skoropadski und die Deutschen, Ataman Petljura und das Direktorium, der Anarchist Nestor Machno und natürlich die Boschewiki – viele wollen herrschen. Im Mai 1919 haben in Kiew die Bolschewiki das Sagen, jedenfalls tagsüber. Nachts sind alle Katzen grau, auch wenn sie weiß sind oder rot. Samson mag 17 sein oder 19, jung jedenfalls, als marodierende Kosaken seinen Vater töten und ihm ein Ohr absäbeln – im Wortsinn. Samson sammelt sein Ohr ein, begräbt den Vater und beginnt für sich selbst zu sorgen. Durch einen Zufall verschlägt es ihn zur gerade gegründeten Miliz. Der fehlt es nicht an Klassenbewusstsein. Wohl aber an Leuten, die schlüssige Protokolle verfassen können. Und muss nicht irgendwer für Ordnung auf den Straßen sorgen? Den Dienstrevolver kann Samson gut gebrauchen, zum Beispiel zur Selbstverteidigung gegen einquartierte Rotarmisten mit finsteren Plänen. Und in der sowjetischen Kantine gibt es immerhin Hirsebrei und Kompott gegen Talons. Ansonsten hat die neue Macht wenig zu bieten oder in den Worten des Miliz-Faktotums Wassyl: “Bisher haben wir nur Dienste, die Papiere ausstellen.”
Andrej Kurkow, Autor von Graue Bienen (hier rezensiert) mischt Zeitgeschichte, Kriminalhandlung und die erste Liebe. Die ukrainische Originalausgabe ist 2020 erschienen. Der Verlag zitiert Kritiker, die in Kurkow einen “Autor von Gogols Gnaden” sehen oder einen späten Bulgakow. Ja nun: Ein abgetrenntes Ohr, das am Ort seiner Aufbewahrung zuverlässig lauscht, ist noch lange keine Volandsche Teufeliade.
Das Buch liest sich weg und eröffnet Einblicke in eine hierzulande wenig bekannte Zeit. Mit seiner lakonischen Personenzeichnung kann es nicht mehr sein als ein Auftakt. Der Krieg in der Ukraine denkt sich beim Lesen mit und gibt dem Buch eine eigene Aktualität.
Das Buch ist im Diogenes Verlag erschienen, Übersetzung: Johanna Marx und Sabine Grebing. Der Link führt auch zu einer Leseprobe. Der Roman hat 368 Seiten und kostet 24 Euro.
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