Diese Hochhäuser standen doch bei mir um die Ecke in Magdeburg? Pustekuchen, alle Fotos stammen aus Leipzig-Grünau. Abenteuer Platte heißt Harald Kirschners Bildband.
Aber die Fotos hätten auch Halle-Neustadt, Berlin-Marzahn, Rostocks Lütten-Klein bebildern können. Oder eine der anderen DDR-Städte, in die das Wohnungsbauprogramm zwei Millionen typisierte Wohnungen gestellt hat. Diese Ähnlichkeit ist nicht nur DDR-typisch: In der sowjetischen Filmkomödie Ironie des Schicksals von 1975 steigt ein Betrunkener versehentlich ins Flugzeug. Er merkt nicht, dass er jetzt in Leningrad ist statt in Moskau; hier wie dort gibt es eine Straße der Bauarbeiter Nr. 25 – und auch der Wohnungsschlüssel passt. Liebeswirren, Drama, Happy End.
Und auch in Grünau existierte eine Straße der Bauarbeiter. Zehn Jahre lang hat Harald Kirschner ab 1981 auf Fotos dokumentiert, wie in Grünau parallel gewohnt und gebaut wurde. Kirschner ist Jahrgang 44 und studierter Fotograf. Schlammhausen habe man das Viertel damals genannt, schreibt er im Vorwort. Gummistiefel vor den Wohnungstüren, bei Regen ein Matsch-Paradies für Kinder. Ihnen widmet Kirschner besondere Aufmerksamkeit in seinem Buch.
Mit dem Unfertigen konfrontiert, machten sie aus der Not eine Tugend und die Baugegend zu einem Abenteuerspielplatz. Mit Puppenwagen vor dem Trafo-Häuschen, ein Buch in der Hand. Vielleicht gerade geholt aus der Fahrbibiliothek vom Foto nebenan. Ein Planschbecken im bereits grünen Vorgarten. Die Riesen-Kabeltrommel als Rutsche. Gummi-Hopse vor dem Hauseingang. Mittlerweile mit Kunst verschönte Trafohäuser. Ein Fest der Hausgemeinschaft. Kinder an Schachbrettern beim “begabungs- und kreativitätsfördernden Unterricht an der 88. POS”. Schülerdisco 1982; ja, so sahen wir aus und so haben wir geguckt.
Der Jugendklub Völkerfreundschaft, einmal als Baugrund, dann im Bau, dann nach Fertigstellung. Straße der Jugend, Straße der Bauarbeiter, Wilhelm-Pieck-Allee, mitterweile umbenannt in Mannheimer Straße, Breisgaustraße, Stuttgarter Allee. Die Ringstraße und die Alte Salzstraße heißen immer noch so.
In einem Essay im Buch erinnert sich Katja Kirsch an ihre Kindheit in Grünau zwischen Kaufhalle, Poliklinik, 16-Geschosser. Wo es alles gab, was sie zum Spielen brauchte, inklusive Dutzender anderer Kinder. Als die Welt ein Abenteuer war und bevor Hooligans durch die Straßen zogen und Nazisprüche brüllten. „Der Zusammenhalt der Kindheit ging verloren. Die Haustüren wurden nun abgeschlossen“, resümiert sie.
Hießen die Plattenbauten schon in der DDR dezent despektierlich Platte? Ich weiß es nicht mehr und erinnere mich an Fragen wie „Alt- oder Neubau?”. Platten gab’s eher für 16,10 im Laden. Vielleicht ist der Begriff ja ein Wort gewordenes Naserümpfen der Bewohner von sanierten Altbauten, explizit gemünzt auf die von ihnen neuerdings verwalteten Beitrittsgebiete. Das klingt so schön nach plattem, genormtem Sozialismus. Vielleicht ist die Verbreitung des Begriffs aber auch stolzer Trotz der Bewohner. Wohnungen in Plattenbauweise gibt es auch im Westen zuhauf. Dort hat man sie aber als sozialen Wohnungsbau vermarktet – ein Begriff zwischen Gönnertum und Scham.
Ich zog mit meiner Mutter in eine Neubauwohnung nach Magdeburg-Nord, als ich etwa zehn war. Zuvor hatten wir in einem Altbau in Magdeburg-Fermersleben gewohnt. Ofenheizung, zwei kleine Zimmer, Toilette gemeinsam mit den Nachbarn draußen auf dem Flur. Jetzt im Zehngeschosser war im Treppenhaus kein Klo, sondern ein Müllschlucker. Fortuna Fortschritt! Eingezogen waren wir mit meiner verwitweten Großmutter. Sie gab dafür ihre kleine Wohnung in Buckau auf, für die sie nach dem Krieg zusammen mit ihrem Mann Steine geklopft hatte. Dadurch bekamen wir eine Wohnung mit drei Zimmern; die alte Wohnung der Oma übernahm meine Cousine. Auch Magdeburg-Nord war damals ein unfertiges Werden. Wer “in die Stadt”, also in Richtung Zentrum, fuhr, nahm den Bus und stieg nach drei Haltestellen in die Straßenbahn um. Erst später fuhr die Bahn bis ins Neubaugebiet. Und auch in Nord hielt eine Fahrbibliothek, gern von mir genutzt.
In Berlin-Marzahn ist übrigens gerade eine Wohnung in einem Zehngeschosser von 1979 zu verkaufen: 3 Zimmer, 89,8 m², 237.000 Euro.
Kirschners Buch hält in Schwarz und Weiß das Bunte fest. Das Blättern darin regt die eigenen Erinnerungen an. Wie haben Sie die “Platte” erlebt?
Das Buch ist im Mitteldeutschen Verlag erschienen, hat 128 Seiten und kostet 18 Euro.
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