“Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern” erzählt die Frühgeschichte des Buches. Und nebenher die Geschichte des Geschichtenerzählens.
Papyrusblätter sind ein biegsames Material. Sie lassen sich gut einrollen – und sind daher in der Antike der Stoff, aus dem die Bücher sind. Auf einer einzigen Rolle lässt sich eine ganze griechische Trägodie unterbringen. Das ist ein Fortschritt gegenüber den Lehmtafeln, gebräuchlich seit etwa 5.000 v. Chr. Erhalten gebliebene Tafeln haben eine Größe von maximal 30 x 35 cm, die meisten sind kleiner. Und damit zu klein für die Aufzeichnung ganzer Abenteuer. Irene Vallejo, studierte Philologin, nimmt uns mit auf die Spur der Bücherjäger, die Alexandrias Große Bibliothek mit Papyrusrollen versorgt haben. Und auf die Reise zu verlorenen Manuskripten und in Vergessenheit geratenen Geschichten.
Wir treffen Alexander den Großen, Homer, die Helden der Odyssee und der Ilias, schlendern durch die Gänge der Bibliothek in Alexandria. Wie viele Bücher enthielt sie zur Blütezeit? 54 800, 200 000, 490 000, 700 000? Auf wie vielen Rollen? Die antiken Quellen widersprechen sich. Für den Katalog der Bibliothek ist im 3. Jahrhundert v. Chr. Kalimachos zuständig. Er ordnet die Werke nach dem Alphabet und nach literarischen Genres und gilt als Ahnherr der Bibliothekare.
Weil Vallejo assoziativ schreibt, kommt sie von der Vergangenheit immer auch auf die Gegenwart. Und die Zeit dazwischen. So begegnen wir nicht nur alten Griechen, Ägyptern und Römern, sondern auch Napoleon. Und dem französischen Dichter und Sänger Georges Brassens, den Vallejo geistig mit Sappho verbindet. Ebenso verwebt sie die eigene Lebensgeschichte mit Büchern und Geschichten. Wie sie als Kind Lesen lernt. Wie sie in der Schule gemobbt wird und sich in eine Welt der Fantasie flüchtet. Wie ein antiker Fluch gegen Bücherdiebe sie an die strengen Regularien von ihr genutzter Bibliotheken in Oxford erinnert. Wie sie mit ihrem Vater in einem Antiquariat in Barcelona steht und er sich freut, in einem alten „Don Quijote“ eines der Exemplare zu entdecken, die unter dem Namen des Dichters Marxens „Kapital“ verbergen.
So stößt sie den Leser immer wieder auf Geschichten und Histörchen. Dass die Lyrik entstanden ist, weil in einer oralen Welt rhythmische Sprache das Erinnern erleichtert. Dass das Pergament sich als neuer Bücherstoff durchgesetzt hat, weil Alexandria eine rivalisierende Bibliothek vom Papyrus-Nachschub abgeschnitten hat. Der Hellenismus – eine erste Globalisierung, Angst vor dem Anderen inklusive. Welches Buch war das erste? Womöglich ein Werk Heraklits über die Natur, abgelegt von ihm in Artemis-Tempel in Ephesos. Und dort verbrannt, als 365 v. Chr. Herostratos den Tempel abbrennt, um dadurch berühmt zu werden.
Die Fülle des Buchs und sein Plauderton sind eine Stärke. Die gelegentlich zur Schwäche wird, wenn Vallejo sich verplaudert in ihren Zeitsprüngen, Assoziationen, Bezügen, Filmszenen. Und mit einem wie schon gesagt oder Ich habe schon besprochen den Faden aufnehmen will, dessen anderes Ende dem Leser aus den Augen geraten ist. Erwähnt sei der prächtige Schutzumschlag: die goldglänzende Abbildung eines Papyrus, gezeichnet vom britischen Afrikareisenden des 18. Jahrhunderts James Bruce. Für einen Hymnus auf das Buch hätte der Verlag hingegen auf wertigerem Papier drucken sollen.
Bei welcher Geschichte haben Sie ein Buch kaum aus der Hand legen können? Und gibt es ein Buch, das Sie treu durch die Etappen Ihres Lebens begleitet hat? Geschichten wollen erzählt werden.
Das Buch ist bei Diogenes erschienen, hat 746 Seiten und kostet 28 Euro. Der Link führt auch zu einer Leseprobe.
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