BuchcoverPeter-Michael Diestel war der letzte DDR-Innenminister. Im Gespräch mit dem Journalisten Michael Hametner beklagt er die Benachteiligung Ostdeutscher: Ruhe gebe ich nicht. Gespräche über die unvollendete deutsche Einheit.

Manche Dinge ändern sich: das Rentenalter. Der Kurs der Wirecard-Aktie. Der Geschmack der Schlager-Süßtafel. Wer Held ist und wer Hochverräter. Aber eines bleibt gleich: Wer Diestel bestellt, kriegt immer auch Diestel geliefert. Auch das neue Buch baut aus persönlichen Erinnerungen, Insider-Informationen aus dem Zentrum der Macht und geballter Lebenserfahrung einen Resonanzraum klarer Worte, der mindestens so breit ist wie der Brustkorb des ehemals schönsten Innenministers der Welt.

Gestohlene Einheit
Als Gesprächspartner dabei ist Michael Hametner. Er ist Journalist und Literaturredakteur, als Jahrgang 1950 zwei Jahre älter als Diestel und diesem freundschaftlich verbunden. Beide halten die deutsche Einheit an sich für einen Glücksfall. Und bedauern, dass sie den Ostdeutschen gestohlen wurde. Wie es dazu gekommen ist und wie sich das nun gemeinsame Land entwickelt hat, dafür kramen sie gemeinsam in ihren Erinnerungen. Hametner ist meist Stichwortgeber, stellt sich dafür uninformierter als er wohl ist; wo’s passt, erzählt er von eigenen Erlebnissen.

Diestel war in der DDR Justitiar einer Industrie-Agrarvereinigung und 1989 einer der Gründer der DSU, gedacht als potentielle CSU-Schwesternpartei. Als ihm deren Parteimitglieder zu sehr mit Rechtsaußen äugeln, wechselt Diestel in die CDU (und verlässt sie 2021, weil sie ihm zu wenig konservativ geworden ist). Für die CDU wird er nach den Wahlen 1990 Innenminister und Vizekanzler der Regierung de Maiziere – auch weil einige darauf hoffen, dass er an der Abwicklung des MfS scheitert. Diestel scheitert nicht, sondern erreicht einen friedlichen Übergang des alten in das neue System. Wobei er die Stasi  ablehnt, aber nicht verteufelt. Und schnell durchschaut, wie der Umgang mit Stasi-Akten dazu genutzt wird, politische Gegner abzuservieren. Diestel erzählt, wie jemand aus dem Bundeskanzleramt ihn aufgefordert hat, de Maizières Stasi-Akte zu nutzen, um den Ministerpräsidenten im Interesse der eigenen Karriere beiseitezuschieben.

Von Dackelfreund zu Dackelfreund
Es sind diese Anekdoten, die zum lockeren Plauderton beitragen. Wie Diestels Personenschützer ihn bei einem Auftritt vor Schlägern in Sicherheit bringen und dann den Saal aufmischen. Wie de Maizière ihn zuerst für eine Arschgeige hält. Und wie er seinem Chef dann doch menschlich näherkommt, so von Dackelfreund zu Dackelfreund. Wie Willi Brandt von Ibrahim Böhme begeistert ist und Diestel ihm stattdessen Gregor Gysi ans Herz legt. Es geht um die Komitees für Gerechtigkeit, um den Schießbefehl, um den unterschiedlichen Umgang mit Doping in Ost und West. Um studierte Bürgerrechtler-Theologen ohne seelsorgerische Qualitäten, um die Vernichtung der Akten von Agenten in der Bundesregierung, um einen Bayreuth-Besuch im weißen Smoking.

Und vor allem geht es darum, dass die Landschaften zwar blühen. Aber dass die Anerkennung ostdeutscher Biografien ausbleibt und nicht alle, wie versprochen, ihren Platz in einem geeinten Deutschland gefunden haben: “Es ging um die wirtschaftliche Übernahme, und dafür musste vorher die Enthauptung des Ostens stattfinden! Man wollte keine Zeugen, die sprechen können.”

Und natürlich ist Diestel eitel. Aber er steht dazu. Und sicherlich hilft ihm die Eitelkeit dabei, ein nach eigener Einschätzung zwar nur mittelmäßiger Jurist, aber ein sehr guter Anwalt zu sein. Weil es bei Gericht auch auf die Show ankommt.

Der Jurist und bekennende Christ Diestel als Anwalt der Ostdeutschen. Und unterhalten kann er auch noch.

Das Buch ist im Verlag Das neue Berlin erschienen, hat 288 Seiten und kostet 20 Euro. Der Link führt auch zu Terminen von Lesungen und Talks mit Diestel und zu einer Leseprobe.

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