“Die meisten Schöpfungen des Verstands oder der Phantasie entschwinden für ewig nach einer Frist, die zwischen einer Stunde nach dem Essen und einer Generation variieren kann”, befand der Ökonom Schumpeter. Der Verlag Das kulturelle Gedächtnis tut etwas dagegen. Und hat mit “Die verlorenen Stürme” ein weiteres Buch von Susanne Kerckhoff neu aufgelegt.
Das Werk ist zuerst im Nachkriegsberlin erschienen, 1947 im kleinen Verlag Wedding-Presse, und danach nie wieder. Bis heute. Für den Osten war es vermutlich zu zweifelnd, für den Westen zu prokommunistisch. Die Autorin, Jahrgang 1918, entstammt einem bürgerlich-liberalen, kunstsinnigen Umfeld. Die zwei Jahre vor ihrem Freitod 1950 leitete sie die Kulturredaktion der Berliner Zeitung.
Die verlorenen Stürme ist ein autobiografisch geprägter Roman, in dem sich das Erleben einer Heranwachsenden in den Jahren 1932/33 spiegelt. Die Nazis sind zunächst noch nicht an der Macht, aber ihre Messer sind schon gewetzt und aus auf „Judenblut“. Marete ist in einer losen Gruppierung, die sich Brücke nennt und dem aufkommenden Irrsinn humanistische Ideale entgegensetzt. Parteipolitisch unterstützt Marete die Sozialistische Arbeiterpartei SAP, weniger aus Überzeugung denn aus Verliebtheit. Maretes Vater, ein Dichter, ist für revolutionäre Kunst, aber nicht für revolutionäre Parteien, in denen er den Keim neuen Unrechts vermutet. Sie wirft ihm seine Passivität vor: “Etwas von Freiheit und Menschlichkeit vordudeln und dann nichts dazu tun, dass es Wirklichkeit werde!” Im Konflikt mit dem Vater, mit Lehrern und Mitschülern findet Marete zu Wahrheiten für sich und andere und zu einem eigenen Weg.
Das Buch berührt durch seine Protagonistin. Ihr zugewandter Humanismus steht in Kontrast sowohl zu den dumpf-spitzen Ressentiments der Erznationalisten als auch zu den ehernen Weisheiten marxistischer Lehrbuchsprache. “Alle Menschen sollen genug haben, um zu leben”, findet Marete. Kerkhoff gelingen bildhafte Sätze wie der, in dem sie den Wandel eines linken Lehrers zum Nazi beschreibt: “Der Genosse Körber baute sich in den Wandel der Dinge ein.” Nebenher erfährt der Leser etwas über Schülermitbestimmung in einem Gymnasium der Weimarer Republik, über Heimat und Entwurzelung und über Hoffnungen, die der Gang der Geschichte in Enttäuschung und Leid verwandelt hat. Marete und ihre Freunde, sie haben sich widersetzt und sind den unbequemen Weg gegangen. Kerckhoff erinnert an diese Form des Widerstands. Im Nachwort spürt Herausgeber Peter Graf Ähnlichkeiten im Leben von Protagonistin und Autorin nach.
Mit Klopstock, Tucholsky und Kästner, mit Diskussionen und mit Flugblättern gegen marschierende SA. “Und wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle”, meldet sich auch Paulus zu Wort.
Das Buch ist im Verlag “Das kulturelle Gedächtnis” erschienen, hat 232 Seiten und kostet 22 Euro. In den Verlagsräumen Heinrich-Roller-Str. 7 in Berlin / Prenzlauer Berg befindet sich auch die “Buchhandlung für unabhängiges Verlegen”. Sie bietet donnerstags bis samstags Bücher und Hörbücher aus über 75 Verlagen an.
Dazu passt:
Rezension der “Berliner Briefe” Susanne Kerckhoffs
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