Bild zeigt BuchcoverEs gibt Bücher, die gewinnen auf den zweiten Blick noch. Dazu zählen die Berliner Briefe Susanne Kerckhoffs. Ein Verlag hat sie neu aufgelegt.

Die Schriftstellerin Susanne Kerckhoff leitete Ende der 40-er Jahre das Feuilleton der Berliner Zeitung. Nach ihrem Freitod 1950 geriet sie in Vergessenheit. Das ist nicht verwunderlich. Der Ökonom Peter Schumpeter hat es nüchtern festgestellt: “Die meisten Schöpfungen des Verstands oder der Phantasie entschwinden für ewig nach einer Frist, die zwischen einer Stunde nach dem Essen und einer Generation variieren kann.” Bei Kerckhoff kam hinzu, dass sie in der frühen DDR in politsche Ungnade gefallen ist.

Das 1948 erstmals veröffentlichte Buch ist ein Briefroman. In 13 fiktiven Schreiben an ihren emigrierten jüdischen Freund Hans verarbeiten Helene und mit ihr Kerckhoff literarisch die Nazi-Zeit: Schuld, Sühne, Erleben, SPD, SED. Die Briefe beeindrucken auf Anhieb. “Ich bin ein Teil des Trümmeratems von Berlin”, was für ein Bild. Kurz bin ich versucht, dem Buch ein Übermaß an Pathos zu unterstellen, weil Kerckhoff in hehre Gedanken belesene Zitate einstreut. Aber wie meine Frau und Gefährtin zu Recht sagt: Bei vollen Supermarktregalen und roten Kirschen lässt sich leicht überheblich sein. Trümmerliteratur hat ein Recht auf Pathos.

Prophetischer Blick
Helene spricht nur für sich selbst, wie sie schreibt. Nicht für Parteien, Kirchen, Klassen oder ihre Generation. Sie zählt sich zu den Prohumanitären. Sie prüft ihre Haltung in der Nazizeit und ertappt sich dabei, wie sie ihre “kleinen Leistungen im großen Streit […] aufzäumte wie die geputzten Paradepferde.”

Die Schumacher-SPD der Nachkriegszeit schildert Kerckhoff als eine im Trüben fischende Partei, die mit russenfeindlicher Propaganda den Ressentiment-Deutschen ködere. Der SED, Kerckhoff wird ihr 1948 beitreten, wirft sie vor, es gehe ihr mehr um die Durchsetzung ihrer Ideologie als um das Wohl der Bevölkerung. Und den Parteimitgliedern, sie fühlten sich unter ihresgleichen zu wohl, statt dem Mann auf der Straße aufs Maul zu sehen. Fernstenliebe statt der Sorge, “dass nun wirklich einmal die Kinder nicht mehr hinter Pappfenstern frieren.”

Noch mehr beeindruckt das Buch aber auf den zweiten Blick. Kerckhoffs klare Sätze haben Gültigkeit über die Zeit hinaus, die sie beschreiben. Etwa wenn Helene meint: “Abenteurer des Materialismus waren wir und entlarvten Lehrer, Pfarrer und Eltern. Uns selbst entlarvten wir nicht.”

Ich denke dabei an verbissene Streits der Gegenwart, geführt mit einem moralischen Rigorismus, der immer nur andere und nie den eigenen Standpunkt hinterfragt. Oder wenn Helene vor Nazis warnt: “Sie lassen sich von der Demokratie schützen, werden in ihrem Schutze wie vordem korpulent und kräftig – um die Demokratie zu stürzen.”

Und wenn sie beklagt, dass die SED Ideologie vor praktische Politik stellt – ist das nicht seit jeher ein linkes Problem? Entlarvung von Grüppchen und Verrätern, Wahrung der Reinheit der Partei. Judäische Volksfront? Volksfront von Judäa? “Spalter!”, wie Monty Python diese linke Reinheitsleere (kein Tippfehler) in “Das Leben des Brian” persiflieren.

Helene und mit ihr Kerckhoff sitzen zwischen den Stühlen. Und: “Von vielen sind wir Prohumanitären schon verlassen worden […]” Auf ihre Weise will sie für das eintreten, “was ich in meiner Begrenztheit – erkennen kann.”

Das Ich der Briefe ist ein literarisches Ich. Mit Überlappungen zur Autorin – so wie Helene schildert, dass eine von ihr unterstützte Jüdin doch in den Tod geholt wurde, ist es auch Kerckhoff ergangen, die gemeinsam mit ihrem Mann verfolgten Mitbürgern mit Papieren und Unterkunft half.

Streit im Feuilleton
Im Nachwort beschreibt Herausgeber Peter Graf die Autorin Susanne Kerckhoff als Opfer eines politischen Ränkespiels einflussreicher Männer nach einer literarischen Kontroverse. Darunter ihr Halbbruder Wolfgang Harich, SED-Chef Ulbricht, Ministerpräsident Grotewohl und der Schriftsteller Stephan Hermlin. Dabei deutet Graf mehr an, als dass er erklärt, und verweist auf fehlende Recherchen.

Aktuell ist das Werk Gegenstand einer Kontroverse im Feuilleton. Die Kritikersendung des ZDF Literarisches Quartett besprach das Buch wohlwollend als sensationelle Neuerscheinung, wobei Juli Zeh Susanne Kerckhoff auf einem zu hohen Ross sah. Ines Geipel hat in der Berliner Zeitung geantwortet. Sie hatte selbst zum Leben Kerckhoffs geforscht und 1999 in einem Sammelband einen Teil der Briefe veröffentlicht. Dem ZDF warf sie mangelnde Kenntnisse des Lebens Kerckhoffs und der Publikationsgeschichte vor. Die Antwort des ZDF hat die Berliner Zeitung heute als Leserbrief eines Redaktionsleiters veröffentlicht: Die Sendung hätte nicht die Person Kerckhoffs, sondern deren Autoren-Ich gemeint, weil das Quartett literaturkritisch und nicht historisch argumentiere.

Das Buch einer jungen Frau mit starken Zügen von Altersweisheit: zu gut fürs Vergessenwerden.

Das Werk ist im Verlag “Das kulturelle Gedächtnis” neu erschienen, hat 112 Seiten und kostet 20 Euro.


Mehr zum Thema

Das Literarische Quartett (Video verfügbar bis 5. Juni 2021; zum Kerckhoff-Buch ab Minute 34:05)
Ines Geipel: Anamnese oder Amnesie

 

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