Bild zeigt BuchcoverDesinformanten, Trolle, Hacker, Datenmakler. Peter Pomerantsev hat sie besucht für sein Buch “Das ist keine Propaganda. Wie unsere Wirklichkeit zertrümmert wird”.

Weiß der Algorithmus mehr über uns und unsere Familien als wir selbst? Und versucht da jemand, im Interesse eines anderen unsere Beziehungen und Identitäten neu zu definieren? Die großen Worte der Vergangenheit – Demokratie, Europa, Freiheit, der Westen – seien “vom Leben in einer Weise ausgehöhlt worden, dass sie als leere Hülsen erscheinen [...]”

Pomerantsev reist von den Philippinen an den Finnischen Meerbusen, auf den Balkan, nach Lateinamerika und zurück in die EU. Immer auf der Suche nach Mustern, wie interessierte Akteure die Wirklichkeit dekonstruieren und neu zusammensetzen.

Die Hierarchie der Faker

Auf den  Philippinen trifft er sich mit P., einem der Unterstützer in der Wahlkampagne des späteren Präsidenten Duterte. Er hatte für den Wahlkampf eine Reihe von Facebook-Gruppen gegründet und mit Fake-Kommentaren in die gewünschte Richtung gesteuert. Über die geschickte Nutzung regionaler Dialekte kamen die Gruppen auf je 100.000 Mitglieder. Dieser P.  ist ein Desinformationsarchitekt. Eine Stufe darunter agierten die Influencer,  auf den Philippinen Online-Comedians, die sich gegen Bezahlung über die Politiker der anderen Seite lustig machen. Ganz unten ständen Fake-Account-Pfleger auf Community-Ebene, die rund um die Uhr jeweils Dutzende Social-Media-Identitäten verkörpern.

Von der Rosen-Revolution bis zum Arabischen Frühling

In Belgrad trifft Pomerantsev Sdrja Popović, Mitgründer des Zentrums für angewandte gewaltlose Aktion und Strategien. Das Zentrum hat mit US-amerikanischer Unterstützung Aktivisten in Georgien, der Ukraine und im Iran ausgebildet, später dann für den Arabischen Frühling in Ägypten, Tunesien, Syrien.  Helfer der US-Politik? “Es ist mir egal, von welchem Diktator sich die Menschen befreien wollen, die ich für ihren Kampf fit mache”, sagt Popović.

Alberto in Mexiko, dem nächsten Reiseziel, ist ein Bewunderer von Popović.  Alberto zeigt Online-Unterhaltungen in Echtzeit zwischen Teilnehmern der größten Demo in der Geschichte Mexikos. Darin sucht er nach Wörtern, die eine Verbindung  zwischen den Protestlern stärken können. Von der anderen Seite versuchen Bots eine Einflussnahme, ebenso wie Handpuppen genannte fremdgesteuerte menschliche Teilnehmer. Und auch die Todesschwadronen und die Narco-Mafia mischen mit. “Auf uns kommen dunkle Zeiten zu, Peter.“

Es sind diese Gespräche, die an Beispielen die verführerische Macht der Desinformation illustrieren. Zum Beispiel das mit Guillaum Chaslot. Der Google-Mitarbeiter hatte 2011 entdeckt, wie ein Youtube-Algorithmus Nutzer von Videos mit falschen Informationen fortwährend mit weiteren Videos solcher Art versorgt und auf diese Weise zur Radikalisierung beiträgt. Oder mit Rashad Ali, der einst für Islamisten online Nachwuchs rekrutierte. Jetzt arbeitet er für eine Organisation, die gegen Extremismus im Netz wirkt. Oder mit Gleb Pawlowski, einem von Putins ersten Spindoktoren. Er hatte bereits 1996 den Wahlkampf des damals bereits unbeliebten Präsidenten Jelzin betrieben. Und ihm mit einem Märchen vom drohenden Bürgerkrieg zum Sieg verholfen. Mit Fake News wie angeblich von der KP stammenden Plakaten mit radikalen Forderungen.

Pomerantsev sieht Russland mit dessen Netz-Schwadronen allgegenwärtig auf der Weltkarte der Desinformation und als eine Ur-Quelle des Übels. Er teilt aber nach allen Seiten aus und beleuchtet auch die manipulativen Argumente von Brexit-Befürwortern oder der Identitären.

Der Autor ist ein Kind sowjetischer Emigranten und derzeit Forscher an der London School of Economics. In seinen Erzählfaden webt er häufig Garn aus der eigenen Familiengeschichte ein. Die Schilderung von Repressalien durch den KGB und dessen Vorgänger motivieren Pomerantsevs Aversion gegen Manipulationen.  Dem Lesefluss in der ohnehin etwas sprunghaften Struktur des Buchs zuträglich sind sie nicht.

Das Buch schärft die politischen Sinne. Vielleicht ist dieser irre Wirrkopf auf Ihrem nächsten Online-Streifzug durch die Kommentarspalten  ja nur ein Popanz. Errichtet von einem nur scheinbar anderen Diskussionsteilnehmer mit dem alleinigen Ziel, die eigene Meinung umso sinniger erscheinen zu lassen. Popliger Pop-up-Populismus von Pop-up-Avataren und Chaos-Agenten.

Das Buch ist in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen, hat 304 Seiten und kostet 22 Euro.

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