Staatliche Kontrolle ist das eine. Die Datensammelwut von Digitalkonzernen könnte aber das gefährlichere Problem sein.
Diese Nebenwirkungen der Digitalisierung hat die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff 2016 in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung so beschrieben: “In diesem Spiel geht es um den Verkauf eines Zugangs zum Echtzeitfluss unseres alltäglichen Lebens mit dem Ziel, unser Verhalten direkt zu beeinflussen, zu verändern und daraus ein Geschäft zu machen. Es ist das Tor zu einer neuen Welt geschäftlicher Möglichkeiten: Restaurants, die unser Fahrziel sein möchten; Werkstätten, die unsere Bremsbeläge austauschen wollen; Geschäfte, die uns wie die legendären Sirenen anlocken.”
Ihr neues Buch liefert auf 727 Seiten dafür die ausführlichen Beweise. Allein die Fußnoten und Anmerkungen füllen 100 Seiten. Zuboff beschreibt die Macht von Digitalkonzernen wie Google und Facebook. Und die daraus resultierenden Veränderungen für die Wirtschaft, die Gesellschaft und die einzelnen Menschen. Spoiler-Alarm: Viele davon sind dazu geeignet, uns zu entmündigen.
Die Argumente der guten Menschen aus dem Silicon Valley und den anderen Höhen und Tälern der Digitalisierung sind laut Zuboff immer so ähnlich wie die des Google-Managers Hanke. 2009 begründete er die Segnungen des Google-Produkts Street View, einer fotografischen Abbildung von Häusern und Grundstücken, diese Informationen seien “gut für die Wirtschaft und gut für jeden Einzelnen … Es geht darum, den Leuten wesentliche Informationen zu geben, anhand derer sie bessere Entscheidungen treffen können.” Ein Jahr später musste der Konzern zugeben, dass seine Street-View-Fahrzeuge auch private Daten aus unverschlüsselten WLAN-Netzen gespeichert hatten. Recherchierende Kritiker fanden heraus, dass dazu Namen gehörten, Telefonnummern, Kreditkarteninformationen, Passwörter, SMS, E-Mails, Transkripte von Chats, Browseraktivitäten, medizinische Infos, Fotos … Die Reaktion des Konzerns auf Anfragen von Datenschutzbehörden, Klagen und ähnliche Unannehmlichkeiten: Es sei das Versehen eines Ingenieurs gewesen. Dieses Sündenbock-Szenario passt in Googles vier Phasen-Strategie: Übergriff, Gewöhnung, Anpassung, Neuausrichtung.
Zuboff entwickelt daraus die Theorie eines Überwachungskapitalismus, der sie eine neue Stufe innerhalb des Kapitalismus zuschreibt. Der Kapitalismus des 20. Jahrhunderts seit Henry Ford war ein Kapitalismus der Massenproduktion, des Massenkonsums und der demokratischen Emanzipation. Die Warenproduktion war auf die Konsumenten ausgerichtet. Die Informationskonzerne hingegen sind erst in zweiter Linie an Produkten interessiert und in erster am Sammeln von Daten. Ihre User sind keine Kunden, sondern Lieferanten von Daten-Material. Die Kunden der Konzerne sind hingegen die Unternehmen und Organisationen, die bei Google oder Facebook Werbung schalten.
Die Autorin zitiert einen Forscher des Massachusetts Institute of Technology: “Während wir unserem Alltagsleben nachgehen, hinterlassen wir virtuelle Brotkrümel, digitale Aufzeichnungen über die Leute, die wir anrufen, wo wir hingehen, was wir essen und die Produkte, die wir kaufen. Diese Brotkrümel erzählen unser Leben präziser als alles was wir selbst von uns preisgeben.” Und sie wollen von uns jedes einzelne Brotkrümel, ganz besonders gern die mit noch ein bisschen Butter und Marmelade. Haben sie genügend gesammelt und analysiert, können sie das Verhalten der Konsumenten voraussagen. Reaktionen von Kunden werden kontrollierbar. Big Data liefert nicht nur die Erfassung, sondern auch die Kontrolle menschlichen Verhaltens. Was sie dem Staat nicht erlauben, erlauben Bürger aus Bequemlichkeit den Datenkonzernen. Das Resultat dieser scheinbaren persönlichen Selbstverwirklichung sind soziale Atomisierung bei gleichzeitiger totaler sozialer Kontrolle. Das Verhältnis vieler User zu Facebook lässt sich als Abhängigkeit von einem toxischen Milieu lesen. Diese Abhängigkeit ist gewollt und gefördert mit verhaltenstechnologischen Methoden, mit denen schon die Spielautomatenindustrie erfolgreich war.
Zuboff hat auch noch eine gute Nachricht: Es war nie allein die Technologie, die diese Entwicklung bestimmt hat. Den Ausschlag gaben immer menschliche Entscheidungen aufgrund politischer oder ideologischer Faktoren. Zum Beispiel der Kampf gegen den Terror, der nach Nine Eleven den Schutz der Privatsphäre als nachrangig erscheinen ließ.
“Die Berliner Mauer fiel aus vielen Gründen, vor allem aber weil die Menschen in Ostberlin sich sagten: ‘Jetzt reicht’s’. … Es reicht! Nehmen wir dies als unsere Deklaration.”
Ein beeindruckendes Buch mit Fakten, Analysen und einer dringenden Handlungsaufforderung. Vielleicht browsen Sie zukünftig ja lieber mit Tor. Oder nutzen zumindest eine Suchmaschine, die Ihre Daten nicht maximal abgreift.
Das Buch ist im 2018 im Campus-Verlag erschienen und kostet 29,95 Euro.
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