25 Frauen mit Ost-Sozialisation im Porträt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in Politik, Wirtschaft oder Kultur Erfolg haben. Hat das mit ihrer Herkunft zu tun?
Geschlechtergerechtigkeit ist ein Dauerthema – auch eine der “Zehn Fragen” hier im Blog behandelt das Verhältnis zwischen Männern und Frauen. 2017 ist den Journalisten Tanja Brandes (Jahrgang 1981) und Markus Decker (Jahrgang 64), beide aus dem Westen, aufgefallen, dass unter den Spitzenkandidaten für die damalige Bundestagswahl vier Frauen sein könnten, und zwar alle aus dem Osten: Angela Merkel, Katrin Göring-Eckardt, Frauke Petry, Sahra Wagenknecht. Wieso schaffen es vier Frauen aus dem Osten an die Spitze, wo es doch in der Politik wie auch sonst meist Männer sind, die oben stehen? Die Idee fürs Buch war geboren.
Emanzipiert aus Tradition
Die Autoren werfen zunächst einen Blick zurück in die DDR und attestieren ihr eine “halbe Emanzipation”. 1989 waren 92 Prozent der Frauen in Ostdeutschland berufstätig. Im Westen waren es nur 51 Prozent. Im Berufsleben zwar emanzipiert, aber dennoch selten in hohen Leitungsfunktionen, mussten Ostfrauen laut Buch außerdem den Großteil der Hausarbeit und Kindererziehung übernehmen.
Mit der Wende war dann mit dem Recht auf Arbeit auch das Recht auf einen Kindergartenplatz verschwunden. Die Frauen mussten sich neu erfinden. Und hatten dabei oft Erfolg, wie die Porträts zeigen.
Befragt werden nicht nur die üblichen Verdächtigen aus der Politik, wie Katrin Göring-Eckardt, Katja Kipping oder Manuela Schwesig. Auch Katarina Witt ist ein bekannter Name. VW-Vorstand Hiltrud Werner ist dabei, die #Aufschrei-Feministin Anne Wizorek. Bea Berthold und Aline Burghardt haben eine Jugendkunstschule gegründet, Cornelia Leher war die erste Pilotin bei Air Berlin. Die meisten bekommen ein eigenes Kapitel, die drei Journalistinnen Anja Maier, Simone Schmollack und Sabine Rennefanz ein gemeinsames. Rennefanz thematisiert einen Zwiespalt: Ihre ostdeutsche Herkunft macht sie womöglich produktiver und zwingt sie, stärker über sich selbst und ihre Umgebung nachzudenken. Gleichzeitig findet sie es problematisch, als ostdeutsche Journalistin zu gelten, denn “ich wollte immer eine deutsche Journalistin sein.” Brandes/Decker zitieren aus Rennefanz’ Buch “Eisenkinder”: “Der Ostdeutsche wird wie der Türke zum Fremden gemacht … Die Westdeutschen schauen jeweils aus der Distanz zu. Sie müssen nicht über sich selbst nachdenken.” Ostdeutsche Journalistinnen sind in Leitungsfunktionen kaum zu finden, stellt Rennefanz nüchtern fest.
Rollenmodell DDR
Wie unterscheiden sich die Ost- von den Westfrauen? Göring-Eckardt meint dazu: “Der eigentliche Unterschied ist, dass wir das Rollenvorbild hatten… Ich wäre nie auf die Idee gekommen, nicht arbeiten zu gehen.” Die Gleichberechtigung war in der DDR weiter, meinen die Autoren. Auch “Mein Bauch gehört mir” sei in der DDR Realität gewesen. Für das vereinigte Deutschland leiten sie daraus eine Langzeitwirkung ab.
Ein wenig zufällig wirkt die Auswahl der Porträtierten. Viele der für das Buch angefragten Frauen hätten Gespräche abgelehnt, was die Autoren so interpretieren, dass diese sich “nicht als Frau, nicht als Ostdeutsche und schon gar nicht als ostdeutsche Frau” positionieren wollen. Neben diesen nicht gesprächswilligen Frauen kommen auch die Ost-Männer bei ihnen nicht gut weg. Eingangs des Buches noch gelobt für ihre im Vergleich zu Westmännern höhere Bereitschaft zur Elternzeit (und auch dafür, sich ihre Kleidung selbst zu kaufen), sind sie am Ende des Buchs zum Problem geworden: Während in den 90-ern in Ostdeutschland Westmänner Karriere machten, standen die Ostler “mit ihren Dederon-Beuteln Marke DDR etwas verloren auf Marktplätzen oder an Straßenkreuzungen.” Als soziale Absteiger würden Ostmänner sich in Krankheiten zurückziehen. Oder die Frauen in ihrem Umfeld mobben. Oder AfD wählen. An dieser Stelle scheint eine Abneigung durch, die Decker in seinem Zeit-Text vom März 2018 als erloschene Liebe zum Osten geschildert hat.
Das Buch gewährt spannende Einblicke in Lebensläufe. Und die eine oder andere verblüffende Erkenntnis. Dass die Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen im Osten geringer ist als im Westen, hätte ich so vermutet. Dass die Ostfrauen in Cottbus und Frankfurt/O. 17 Prozent mehr als die Ostmänner dort verdienen, das hingegen nicht.
Ob wohl demnächst Ost-Journalisten einem staunenden Deutschland die Westfrauen erklären? Rechnen Sie lieber nicht darauf.
Das Buch ist gerade im Christoph-Links-Verlag erschienen, hat 248 Seiten und kostet 18 Euro.
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2 Responses to Ausgelesen: Tanja Brandes, Markus Decker. Ostfrauen verändern die Republik.
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Sehr geehrter Herr Kluge,
Sie schreiben in Ihrer Rezension:
Als soziale Absteiger würden Ostmänner sich in Krankheiten zurückziehen. Oder die Frauen in ihrem Umfeld mobben. Oder AfD wählen. An dieser Stelle scheint eine Abneigung durch, die Decker in seinem Zeit-Text vom März 2018 als erloschene Liebe zum Osten geschildert hat.
Ich würde an der Stelle gern sagen, dass der Hinweis auf die Krankheiten auf eine Studie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zurück geht. Das, was Sie als Mobbing bezeichnen, sind autorisierte Sätze der ostdeutschen Soziologin Julia Gabler, ist also ebenfalls nicht auf meinen Mist gewachsen. Und dass überwiegend Männer im Osten AfD wählen, ist empirisch belegt und wurde nach der Bundestagswahl 2017 breit diskutiert. Im Übrigen verweise ich auf die Zitate der Ostdeutschen Jana Hensel und Wolfgang Engler (“männlich dominierte Zurückbleibergesellschaft”) am Ende des Kapitels.
Insofern scheint da keine Abneigung durch. Ich kann Ihnen Dutzende Texte und zwei Bücher zeigen, die das Gegenteil belegen. In dem Zeit-Text drückt sich vielmehr ein jahrelang verborgenes Leiden aus an einem Zustand, der mir seit Anfang der 1990er-Jahre auf den Nägeln brennt. Das können Sie unter anderem an folgendem Text aus dem Jahr 2001 ablesen: http://www.b-republik.de/archiv/die-rechten-im-osten
Beste Grüße
Markus Decker
Sehr geehrter Herr Decker,
vielen Dank für die Präzisierungen. Habe Ihren Kommentar jetzt erst entdeckt und aus dem Sumpf des Spams (Suchmaschinen-Optimierung, Wunderpillen, Sneaker) geangelt.
Dass die AfD vorwiegend von Männern gewählt wird, ist kein ostdeutsches Phänomen. In den alten Bundesländern war der männliche Anteil an den AfD-Stimmen bei der Bundestagswahl 2017 im Männer-Frauen-Vergleich noch deutlich höher (26 % bei Männern, 17 bei Frauen im Osten und 13/8 im Westen). Und ich will nicht einmal ausschließen, dass sogar unter den AfD-Wählern im Westen Menschen sein könnten, die nicht auf dem letzten Stand der Mode sind.
Die Wahlerfolge der AfD sind das Resultat abgehängter Regionen. Die es natürlich im Westen ebenfalls gibt. Auch dazu existiert vermutlich eine Studie. Falls nicht, beauftrage ich beim nächsten Lottogewinn selbst eine.
Herzliches Winken aus Kaulsdorf und frohe Ostern :-MK