Das Fundament der Gesellschaft hat große Risse. Collier will sie kitten. Ein sozialer Kapitalismus soll die von ihm diagnostizierte Rottweiler-Gesellschaft ablösen.

Collier ist ein hochangesehener Ökonom. In seinem Buch “Exodus” hat er Rezepte zum Umgang mit Migration entwickelt – die geänderte Flüchtlingspolitik der Bundesregierung lässt sich als ein Versuch zu deren Umsetzung deuten. Laut einem Artikel der Welt hat Collier Merkel beraten. In seinem neuen Werk nimmt er sich die Kluft vor, die innerhalb der wirtschaftlich entwickelten Länder entstanden ist.

George Akerlof, Träger des Wirtschaftsnobelpreises, bezeichnet Colliers Buch als “das bahnbrechendste sozialwissenschaftliche Werk seit Keynes. Hoffentlich wird es ebenso einflussreich sein.” Der Ökonom Keynes ist der Namensgeber des Keynesianismus – einer Theorie, die für staatliche Eingriffe zur Ankurbelung der wirtschaftlichen Nachfrage plädiert.

Das Problem: soziale und kulturelle Spaltung
“Der moderne Kapitalismus hat das Potenzial, uns allen beispiellosen Wohlstand zu bringen, aber er ist moralisch bankrott und steuert gradewegs auf eine Tragödie zu”, schreibt Collier. Was ist schiefgelaufen im Kapitalismus? Boomende Metropolen stehen einer abgehängten Provinz gegenüber. Hochqualifizierte in Lohn und Brot rümpfen die Nase über Geringverdiener – und umgekehrt. Hinzu kommt die globale Spaltung. Der Kapitalismus löst sein Versprechen, einen ständig steigenden Lebensstandard für alle zu bieten, immer weniger ein: Manche profitieren, andere werden abgehängt.

In dieer Situation erhalten zwei Arten von Politikern Auftrieb: Populisten und Ideologen. Die einen hauchen krachend gescheiterten Ideologien neues Leben ein: dem Faschismus (und dem Nativismus, wie Collier die herkunftszentrierte Sichtweise nennt), dem Marxismus und dem religiösen Fanatismus. Die anderen beantworten Ängste und Wut mit Scheinlösungen, die “sich zwei Minuten lang wahr anhören.” Colliers Antwort lautet Pragmatismus.

Der Autor weiß aus persönlicher Erfahrung, wovon er schreibt. Im Alter von 14 waren er und seine Cousine gesellschaftlich noch gleichauf: Kinder ungebildeter Eltern am Gymnasium. Seine Cousine wurde durch den Tod ihres Vaters aus der Bahn geworfen und als Teenagerin Mutter. Collier wurde Ökonom in Oxford und in den Ritterstand erhoben. Seine Tochter erhielt mit 17 ein angesehenes Stipendium, die 17-jährigen Töchter der Cousine bekamen Babys.

Der  Spaltung der Gesellschaft setzt der Ökonom eine ethische Erneuerung entgegen. Er orientiert sich dabei an der Sozialdemokratie von der Nachkriegszeit bis 1970. Zur Sozialdemokratie seiner Auffassung zählen dabei auch Mitte-Rechts-Parteien. Die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland, das steuerfinanzierte Gesundheitssystem in Großbritannien sieht er als Resultat dieser am Allgemeinwohl orientierten Entwicklung.

Nach 1970 hat sich laut Collier ein wohlmeinender Paternalismus seitens des Staates entwickelt. Ansprüche und Beiträge hingegen begannen auseinanderzuklaffen. Die gemeinsame Identität in den Ländern, die auch aus den gigantischen Kraftanstrengungen des Weltkriegs heraus entstand, begann zu bröckeln. Als Gesellschaftsauffassung vom “größten Glück der größten Zahl” geriet sie auch von anderer Seite unter Druck: Anhänger des Sozialphilosophs John Rawls meinen, eine Gesellschaft müsse sich daran messen lassen, ob sie den am stärksten benachteiligten Gruppen nutzt. In der Folge ist eine Opfer-Konkurrenz zwischen Gruppen entstanden. Zur Entsolidarisierung beigetragen hat außerdem der Liberalismus in der Lesart Thatchers und Reagans.

Die Lösung: Ethik der Gemeinschaft
Collier will die ethische Basis der Gesellschaft über das Gemeinschaftsgefühl stärken – als ein System gegenseitiger Verpflichtungen. Die “Ideologie des Einzelnen“ mit maximaler Selbstverwirklichung soll durch eine inklusive Gesellschaft und inklusive Politik abgelöst werden. Für die Verbesserung der Lebenschancen und der sozialen Beziehungen hält er eine breite Palette von Maßnahmen erforderlich. Gemeinsame Identität soll durch die Besinnung auf Zugehörigkeit, Ortsverbundenheit und Patriotisms entstehen. Bürger einer Nation benötigen dafür ein “gewisses Maß an gemeinsamer Identität”. Den Ausschlag dafür gibt aber nicht die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe oder ein gemeinsamer Wertekanon, sondern die gemeinsame Verbundenheit mit dem Ort, an dem man lebt, und das gemeinsame Streben nach einem Ziel, das alle besserstellt. In der Wirtschaft soll statt profitorientiertem Quartalsdenken Nachhaltigkeit einziehen, zum Beispiel über Genossenschaften und Arbeitnehmern in Leitungsgremien. Collier führt dafür das Prinzip der Mitbestimmung in Deutschland an. Auch in den familiären Beziehungen plädiert Collier für eine neue Ethik und die Übernahme von Verantwortung – er selbst nahm mit seiner Frau die minderjährigen Enkel seiner Cousine in Obhut.

Colliers Maßnahmenkatalog ist überaus vielfältig, von intelligenten neuen Steuern (zum Beispiel für Grundstückseigentümer in boomenden Metropolen) und Investitionsförderagenturen über die Gestaltung einer maßvollen Migration bis zu einem „Teach-Last“-Ansatz, bei dem Menschen zum Ausklang des Berufslebens ihr Wissen an Schulen vermitteln.

Colliers Ideen, mal angerissen, mal ausführlicher dargestellt, sind meist schlüssig. Sie sind auch Wunschdenken: Die betriebliche Mitbestimmung in Deutschland ist durch den Mitgliederschwund der Gewerkschaften längst aus dem Gleichgewicht geraten. Aber Bücher wie das von Collier bringen Eliten unter Druck, bei ihrer Gestaltungsmacht das Gemeinwohl im Blick zu behalten. Und spannend sind sie allemal.

Das Buch ist 2019 im Siedler-Verlag erschienen, hat 317 Seiten und kostet 20 Euro.

Gut zu wissen: Rezension “Exodus”

 

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