Drei – zwei – eins – weg: Am Dienstag passiert’s – die Mauer ist dann länger entschwunden, als sie gestanden hat.
Die vermutlich größte Veränderung für die meisten Menschen in Westdeutschland war zunächst ein Schokoriegel: „Aus Raider wird jetzt Twix … sonst ändert sich nix.“ Die vermutlich größte Veränderung für die meisten Menschen in Ostdeutschland war das komplette eigene Leben.
Ging es Ihnen damals auch so? Plötzlich meldeten sich Leute wieder, die man eine halbe Ewigkeit nicht gesehen und eigentlich auch nicht vermisst hatte. Und während sie eine Flasche guten Westwein entschraubten, fingen sie an zu erzählen, dass sie ja jetzt diese Supersache angefangen hätten – Produkte direkt vom Erzeuger und deshalb unheimlich günstig im Preis. Sie hätten hier gerade auch ein paar Proben, ob man nicht mal schauen wolle … War es AmWay oder Yves Rocher? Plötzlich schien die eine Hälfte des Ostens damit beschäftigt, der anderen Hälfte Parfüm zu verkaufen, Versicherungen und Finanzdienstleistungen.
Vorbei der Schwung von 1989/90, als alles möglich schien. Freiheit war nicht mehr „Einsicht in die Notwendigkeit“, wie eine DDR-Standardfloskel lautete, von Engels bei Hegel entlehnt, und auch nicht die Reise nach Paris oder San Francisco. Freiheit bedeutete für viele jetzt das Ringen um eine dauerhafte neue Existenz. Damit war auch Aufbruch verbunden. Wer jung genug war, konnte sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, sich selbst neu erfinden und die Wartemarken des Arbeitsamts hinter sich lassen, wo der Sachbearbeiter gerade immer nur ein bisschen mehr wusste als er selbst. Die Älteren blieben oft bis zur Mini-Rente gefangen in einem Kreislauf aus Arbeitslosigkeit und sinnfreien Fortbildungen. Und auch wer in Lohn und Brot geblieben war, erhielt in der Regel Vorgesetzte aus dem Westen, die zeigten, wo es langgeht.
Laut einer aktuellen Umfrage der Berliner Zeitung fühlen sich 4 Prozent der in Ostdeutschland geborenen Berliner als Verlierer der Einheit. 48 Prozent fühlen sich als Gewinner und ebenfalls 48 Prozent haben sich bei ihrer Antwort für weder/noch entschieden. Von den in Westdeutschland geborenen fühlen sich 7 Prozent als Verlierer, 31 Prozent als Gewinner und 62 Prozent als weder/noch.
Erst mit den Jahren und Jahrzehnten hat sich herausgestellt, dass sich auch im Westen mehr verändert hat als ein Schokoriegel. Mit der DDR ging auch ein soziales Korrektiv verloren. Es klingt absurd, aber: Nie war die DDR wertvoller als heute.
Und was meinen Sie dazu? Wie ist es Ihnen ergangen?
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