6.11.2017 / Morgen jährt sich zum hundertsten Mal eine Revolution, die von ihren Anhängern als Große Sozialistische Oktoberrevolution* ikonografiert wird. Ihre Gegner sehen sie als blutsäuferischen Putsch.
“Der Kreuzer Aurora gab das Signal zum Sturm auf das Winterpalais”, diesem Satz konnte in der DDR und ihren Bruderstaaten kaum jemand entkommen. Was nicht geschrieben wurde: Auch die Kanonen der Peter-Pauls-Festung sollten das Signal geben, erwiesen sich aber als funktionsunfähige Museumsstücke. Als Ersatz sollte eine rote Laterne an der Spitze des Fahnenmastes der Festung gehängt werden. Es war keine aufzutreiben, und bei der hektischen Suche fiel der bolschewistische Kommandant der Festung in eine Schlammgrube.
Im Winterpalais saß die Provisorische Regierung Russlands. Nachdem die Zarenfamilie infolge der Februarrevolution abgedankt hatte, wollte die Provisorische Regierung eine bürgerlich-demokratische Ordnung nach westlichem Vorbild einführen – in einem Land, in dem nach Jahrhunderten der Leibeigenschaft und autokratischen Herrschaft der Zaren fast alle Voraussetzungen dafür fehlten und das sich als Teil der Entente im Krieg gegen Deutschland und die Mittelmächte befand. Provisorisch nannte sich die Regierung deshalb, weil sie nur bis zur Einberufung einer Konstituierenden Versammlung amtieren sollte. Sie vereinte parteilose, liberale und linke Politiker, aber nicht die Bolschewiki (übersetzt: Mehrheitler), wie sich die Partei Lenins und Trotzkis aufgrund einer eher zufälligen Zwei-Stimmen-Mehrheit auf einem Parteitag 1903 nannte. Die Bolschewiki wollten die Macht nicht teilen, sondern über die Sowjets komplett übernehmen. Sowjets waren Arbeiter- und Soldatenräte, die ebenfalls im Zuge der Februarrevolution entstanden waren, oft, aber nicht immer unter Kontrolle der Bolschewiki.
Der Vorsitzende der Provisorischen Regierung Kerenski, ein Vertreter der Partei der Sozialrevolutionäre, war bereits am Vormittag aus der Stadt geflüchtet. Für den Schutz seiner im Winterpalais verbliebenen Regierungsmitglieder sollten 3.000 Soldaten sorgen, die aber weder genügend Munition noch Verpflegung hatten. Als die Provisorische Regierung zu ihrem letzten Abendmahl zusammenfand (Bortsch, gedämpfter Fisch und Artischocken), waren von ihren Verteidigern gerade noch 300 geblieben. Unter ihnen befand sich auch eine Kompanie des Frauen-Todesbataillons, einer im Weltkrieg gegründeten Kampfeinheit. Gegen 22:40 Uhr setzte der Beschuss des Palais ein, nach zwei Uhr morgens dann der Sturm durch eine eher kleine Gruppe Aufständischer. Von den Verteidigern starben sechs, die Angreifer hatten keine Verluste. Wer nicht rechtzeitig geflohen war, wurde gefangen genommen. Drei der Soldatinnen des Todesbataillons wurden später vergewaltigt – wie auch zahlreiche Einwohnerinnen, nachdem die nachrückende Menge den reich gefüllten Weinkeller des Palais entdeckt hatte und ein betrunkener und mordender Mob sich durch St. Petersburg wälzte. Die Revolution hatte vorerst gesiegt.
Was folgt, ließe sich als eine Abfolge millionenfachen Mordes durch Bürgerkrieg, Hunger und Terror schildern. War die Oktoberrevolution also die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts? Oder sind die Erfolge der Arbeiterbewegung bis hin zur sozialen Marktwirtschaft nicht denkbar ohne die Angst der Schwerreichen vor der Strahlkraft der Ideen aus dem Osten?
*Die Oktoberrevolution fand im November statt, weil Sowjetrussland 1918 vom Julianischen zum Gregorianischen Kalender gewechselt ist.
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