Bild zeigt Brandenburger Tor in den deutschen NationalfarbenGewissheiten sind ein Ordnungsprinzip. Einst galt: Dort der Westen, angeführt von den USA im Namen der Freiheit. Hier der Ostblock, angeführt von der Sowjetunion im Namen des Kampfes gegen Ausbeutung. Dazwischen die Bewegung der blockfreien Staaten: 120 Länder, die sich nicht vereinnahmen lassen wollten von der einen oder anderen Seite. Und China als noch weitgehend mit sich selbst beschäftigter Koloss.

Die Sowjetunion und die USA hatten ihre Hinterhöfe: Länder, die nur solange in ihren Entscheidungen frei waren, wie sie nicht geopolitischen Interessen in die Quere kamen, den Gewinnen der US-Konzerne oder der gerade gängigen Marxismus-Lesart. Dann wurde geputscht, abgelöst, einmarschiert – in Guatemala, Kuba, Grenada, Brasilien, in Ungarn, der ČSSR, Afghanistan. Zyniker könnten meinen, solch Schalten und Walten von Großmächten in ihrer Nachbarschaft sei so häufig, dass es schon zum Völkergewohnheitsrecht reichte. Schweinehunde? Bedauerlich, aber letztlich egal, solange es „unser Schweinehund“ ist, wie US-Präsident Franklin D. Roosevelt den Diktator Nikaraguas eingewestet hat.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien „das Ende der Geschichte” gekommen. „Der Westen“™ hatte gesiegt. Die der sowjetrussischen Fuchtel entronnenen Staaten hatten es eilig: erst mit der nationalen Eigenständigkeit, dann mit dem Beitritt zur NATO und EU – „entschlossen, den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben“, wie es im Vertrag über die Europäische Union heißt. Die Nation, eingebettet in Supranationalität. Demokratie, Liberalismus und Marktwirtschaft strahlten um die Wette. Selbst Russland versuchte für zwei Jahrzehnte, dem westlichen Muster zu folgen – oder tat zumindest so.

Konvertiten neigen gelegentlich zu besonderem Eifer: Armenien, Aserbaidschan, Bulgarien, Lettland, Litauen, Mazedonien, Moldau, Polen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, die Ukraine, Ungarn und Usbekistan stützen als Mitglieder einer Koalition der Willigen 2003 den Angriff der USA auf den Irak. Polen war mit 2.500 Soldaten im Irak, die Ukraine mit 1.650, andere wie Moldau mit 16 Soldaten zeigten eher symbolisch Präsenz.

Verlöschende Lichter
Diesem Internationalismus entgegen stand die innere Verfasstheit vieler Länder, in denen es immer stärker um nationale Homogenität ging und um die Betonung eigener nationaler Besonderheiten. Die Auflösung der Tschechoslowakei 1992 gelang friedlich. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach köchelte seit 1988 – bis hin zu Pogromen gegen die jeweils andere Nationalität. Nach dem letzten Angriff seitens Aserbaidschan im September 2023 sind jetzt fast alle Armenier weg aus der Region. Der NATO-Krieg gegen Serbien hat mit Bosnien- Herzegowina und dem Kosovo Nachfolgestaaten hinterlassen, in denen auch 30 Jahre später zur Befriedung der Volksgruppen ausländische militärische Präsenz nötig ist. Gleichzeitig ist die nationale Eigenständigkeit attraktiv genug, dass sie dafür sogar mafiöse Strukturen in Politik und Wirtschaft hinnimmt. EU-Kandidaten sind die beiden Länder trotzdem.

Anderenorts ist aus der ersten Liebe Osteuropas zum EU-Europa  eine Vernunftehe geworden. Die Politologen Ivan Krastev und Stephen Holmes nannten ihr Buch darüber „Das Licht, das erlosch“, eine Metapher für die verlorene Strahlkraft des Liberalismus in Ost- und Mitteleuropa. Die Imitation des Westens hat in dieser Lesart die Identität der Länder bedroht, der Beitritt zur ‚freien Welt‘ auf Augenhöhe mit den europäischen Nachbarn sich als Illusion erwiesen. Westlich-liberale Auffassungen zu Migration,  Religion, Sexualität werden von vielen als Bevormundung empfunden. Populisten nutzen sie als Steilvorläge für Wahlkämpfe, wie jüngst in Polen die PiS-Partei. Das Kürzel steht für Recht und Gerechtigkeit. PiS verlor im Vergleich zu 2019 Stimmen und die Wahl – das Pendel ist noch am Schwingen.

Der Rest der Welt klopft die Sonntagsreden von Freiheit und Demokratie ohnehin ab auf die wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen dahinter. Der Staatenbund BRICS ist ein Versuch, der verbliebenen Weltmacht USA eine multipolare Struktur entgegenzusetzen. Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, ab 2024 auch Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate – als Nationen sind sie so heterogen, dass BRICS nur schwer zu gemeinsamem Handeln finden wird.

Hier eine oft von sich selbst enttäuschte EU ohne Durchsetzungs- und Strahlkraft mit einem Krieg an den Außengrenzen, dort Fragmente einer neuen multipolaren Ordnung und ein ungelöster Nahost-Konflikt – und was ist mit Deutschland?

Benennung eigener Interessen ist überfällig

Ein Teil der Linken fremdelt ausgiebigst mit der eigenen Nation, fordert offene Grenzen und Bleiberecht für alle. Das erleichtert es einem Teil der Rechten, sich selbst zu den einzig wahren Patrioten zu ernennen und für ein Europa der Vaterländer zu trommeln. Andere Länder verfolgen ihre Interessen, während es Deutschland schwerfällt, sich auf solche auch nur zu einigen.

Deutschland weiß nicht recht, was es anfangen soll mit sich als Nation. Es redet nicht groß darüber, wenn jemand seine Pipelines sprengt. Es legt Abhör-Affären mit einem „Ausspähen unter Freunden geht gar nicht“ zu den Akten. Es hat keine Vision und wurstelt sich durch. Deutschland ist stolz auf sein Grundgesetz, während sich unerledigte Fälle stapeln, weil allein bei den Staatsanwaltschaften und Strafgerichten 1.500 Juristen fehlen. Es will einen Kriegstreiber bestrafen und kauft beim nächsten. Es will das Klima retten und erreicht, dass die Wirtschaft schrumpft. Es hat aufwändige Asylverfahren und lässt zu, dass fast jeder im Land bleiben darf. Es spart in der Zeit und es spart in der Not, und spart es so weiter, ist der Mittelstand tot.

2008 war die 27er-EU die wirtschaftsstärkste Region der Welt. Seither ist das  Bruttoinlandsprodukt nur marginal gewachsen. Das der USA dagegen hat sich fast verdoppelt, das von China mehr als verdreifacht. Die EU und mit ihr Deutschland sind abgehängt, wirtschaftlich, politisch, militärisch. Was dagegen hilft: Das deutsch-französische Tandem strampelt endlich wieder gemeinsam in die Berg-Etappe. Die Zusammenarbeit bei der Entwicklung des Eurofighter-Nachfolgers mit Spanien als weiterem Partner spricht dafür, die Schließung von Goethe-Instituten in Frankreich dagegen. Was außerdem helfen würde: eine Industriepolitik, die auch den Mittelstand stützt. Friedensbemühungen für die Ukraine, um der Menschen und der Umwelt willen. Ein Krieg macht mehr kaputt, als es der Gemeine SUV-Fahrer je könnte. Eine Einwanderungspolitik, die zu mehr dient als dazu, die Löhne unter Druck zu setzen.

Womöglich trägt die neue Partei um Sahra Wagenknecht dazu bei, diese notwendige Diskussion sachlich zu führen und daraus zu politischem Handeln zu finden. Derzeit ist eine sachliche Erörterung auch deshalb kaum möglich, weil Jahrmarkts-Journalisten, hysterische Historiker und infantile Influencer ihre aktivistischen Einseitigkeiten an die Algorithmen der Sozialen Medien verfüttern.

Und bis dahin ergehen sich deutsche Linke weiter in ihrem Unbehagen an der Nation, selbsternannte Patrioten in verqueren Träumen von Deutschlands Größe und Migranten in den Straßen der Parallelgesellschaft.

 

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