Der Verlag Das kulturelle Gedächtnis hat eine neue Kleinodien-Sammlung eröffnet: Die Wunderkammer des Lesens. Herausgeber Thomas Böhm hat darin Kuriositäten, Episoden, Texte sinnig zusammengefügt.
“Du verdirbst Dir die Augen” – wer hat diese Ermahnung nicht noch im Ohr. Von damals, als man trotz “Licht aus!“ noch mit der Taschenlampe schmökerte und erwischt wurde. Wie das Licht beim Lesen die Augen schont, das ist nur eine der hilfreichen Anleitungen der Wunderkammer. Das Thema scheint profan, aber so geht es zu in musealen Kammern: Zwischendurch benötigt der Betrachter Atempausen bei all den Sensationen und Sensatiönchen. Wie dem Satz aus einem Brief Kafkas: “[...] ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.” Böhm bringt den gesamten Brief und lässt den Satz umso klarer glänzen. Eine Wohltat im Internet-Zeitalter des Klaubens von Zitaten ohne Zusammenhang.
Lesen in der Badewanne, Umblättern als Genuss. Wie Leser die Augen schonen, die 100 besten Werke der Literatur – gekürt von einer Schriftsteller-Jury, meistgenannt: “Don Quijote”. Tipps für die Führung eines Lesekreises. Ein Galopp-Ritt durch Literaturtheorien, Methoden des Schnelllesens. Was man Sterbenden vorlesen kann. Möglichkeiten, sich über Bücher zu unterhalten, ohne sie gelesen zu haben. Fontane schreibt über ein Gedicht, das er nicht auswendig lernen konnte, Virgina Woolf über das Lesen von Biografien, zwölf Schauspiel-Stars verraten ihre Lese-Empfehlungen. Die Lektüre deutscher Frontsoldaten 1943, die russischer Leser 1983. Die Zusammenstellung ist so kurzweilig wie originell. Ein Beitrag beschreibt das Sensitive Reading, bei dem Experten aus “marginalisierten Gruppen” in Texten nach problematischen Ausdrücken fahnden. Oder in deren Duktus: “‘Sensitive Reader*innen’ sind Expert*innen, die …“. Der Zeitgeist (oder was sich dafür ausgibt) hat es auch in diese Wunderkammer geschafft, womöglich eher um bestaunt als um bewundert zu werden.
Mit dem kulturellen Gedächtnis ist es so eine Sache. Gelegentlich muss ihm auf die Sprünge geholfen werden. Das Buch ist ein solcher Absprungbalken. Und eine Schatzkammer für Literaturfreunde, Leseratten, Bücherwürmer, Sprachinteressierte.
Das Buch ist im Verlag “Das kulturelle Gedächtnis” erschienen, hat 320 Seiten und kostet 28 Euro.
Siehe auch:
Die Wunderkammer der deutschen Sprache (Rezension)
- Interessant? Danke. Dann teilen Sie doch den Text.
- Share on Linkedin
- Tweet about it
- Print for later
- Tell a friend
Nach Kategorien sortieren
Letzte Artikel
- Abgeschlossenes Sammelgebiet
- Ost-Identitäten als soziales Kapital
- Der Mäzen aus dem Waisenhaus
- Weltall, Erde, Mensch
- Vom unsichtbaren Visier in den Granatenhagel
- Mohren, Missionare und Moralisten
- Der Osten und das Unbewusste
- Füllt mir eure Daten in mein Säckel
- Vertrieben, zensiert, gefördert
- Eine Jugend in Prag
- Sprachstanzen und Gedankenmuster
- Nu da machd doch eiern Drägg alleene!
- Mit dem Rolli in die Tatra-Bahn
- Der Teufel in Moskau und im Nationaltheater Weimar
- Low noise? Dreht die Regler auf!
Stimmen-Tags
Beatles-Oldie Brigadier Broiler Bückware Dummheit Ellenbogen Gemischt-Sauna größtes Glück Hartz IV Hase im Rausch Hausbuch Hilbig Honecker intolerant Kollektiv komisch Konsum Mangelwirtschaft Mauer Mokkafix Neid Oertel Patenbrigade Pflaumenmus Pionier Russen Russisch S50 Scheiße Schwarz-weiß Sex Solidarität Sport Stagnation Stasi Stern-Recorder Stimme der DDR Titten-Bilder Trabi tragisch Vita-Cola Wende weniger verkrampft Westfernsehen Wilhelm PieckLetzte Kommentare
- Redaktion bei Ost-Identitäten als soziales Kapital
- André Beck bei Ost-Identitäten als soziales Kapital
- Redaktion bei Inzest und Liebe
- Redaktion bei Colegas estrangeiros: Mosambikaner in der DDR
- Mario Kluge bei Ein Denkmal der Arbeit