Bild zeigt BuchcoverJahreswechsel. Was wäre als Lektüre passender als ein Roman zwischen Zeiten und Räumen. Geschrieben hat ihn Antje Göhler: “Balcke oder Der Hypermoderne Prometheus”.

In ihrem reizvollen Kurzroman hüpft Göhler mit uns wie auf dem Rücken eines Springers hin und her – zwischen Jahrzehnten, zwischen Genres, zwischen Möglichkeiten. Ihr Berlinroman ist ein Schachroman und gleichzeitig ein Ausflug in die Literaturgeschichte. Die Autorin, Jahrgang 67, war DDR-Schachmeisterin und trägt den FIDE-Titel Internationaler Meister der Frauen. Und sie ist promovierte Germanistin mit besonderer Expertise in Expressionismus und Romantik. Schach-, Literatur- und Stadtgeschichte verknüpft sie zu einer Handlung, die Literaturfreunden, Schach-Enthusiasten, Berlinern und Zugereisten eigene Aha-Erlebnisse beschert.

Tausend Stimmen im Grund
Der Balcke im Titel meint den Freund des expressionistischen Dichters Georg Heym. Ernst Balcke verunglückte 1912 mit Mitte zwanzig beim Schlittschuhlaufen auf der Havel; Heym, der ihn zu retten versuchte, starb mit ihm. Göhler schickt ihre Protagonisten Janet und Anton zu Balcke. Die Tour führt vom Märchenbrunnen und dem S-Bahnhof Leninallee über die Insel der Jugend, über Friedhöfe und Schachzirkel in eine Zeitreise. Deren Auslöser ist eine nachgespielte historische Schachpartie. Janet und Anton landen dadurch bei deren Original in einem Berliner Café 1910, bei der auch ein Ernst und sein Freund Hans im Publikum sind. In der Folge perfektionieren sie das Zeitreisen, Ernst und Hans auf der Spur. Bis Anton in der Vergangenheit bleibt.

Der Roman ist voller Anspielungen auf expressionistische Werke und Gestalten, deren Unkenntnis das Lesevergnügen aber nicht trübt. Göhler erzählt ihre Geschichte als Briefroman, ein gelungener Kniff, weil er zusätzliche Perspektiven einbezieht. Cornelius, ein Westdeutscher mit Interesse am Expressionismus und zwecks Ausbildung für eine Position im Familienunternehmen in Berlin, schreibt seiner Schwester von der Bekanntschaft mit Janet. Einmal in der Woche gibt er zur Abwechslung für “abgehalfterte Wissenschaftler, vor allem Historiker und Philosophen” Kurse im Textverarbeitungsprogramm WordPerfect. Der Rezensent bekennt: Auch er saß einst in einem solchen WordPerfect-Kurs. Neben Textverarbeitung bekam er die Erkenntnis vermittelt, Kapital entstehe durch Konsumverzicht. Hat jemand ähnliche Erfahrungen? “‘Pantha rei‘, sage ich spontan. ‘Hieß so nicht früher Karat?“ ‘Ja, ich glaube. Aber ich dachte jetzt mehr an Heraklit und Platon.’“ Der Fluss der Zeit hat auch WordPerfect fortgerissen.

Berlin! In dessen Brust die Brut der Fieber haust! Antje Göhler ist ein Bildungsroman mit vielen Überraschungen gelungen, ohne Aufdringlichkeit oder Langeweile.

Das Buch ist 2014 im Regenbrecht-Verlag erschienen, hat 120 Seiten und kostet 9,90 Euro.

 

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