Schlosser, wer war mehr. Na gut, der Werkdirektor. Und der Parteisekretär, vielleicht. Ein altes Familienfoto bringt mich auf Industriegeschichte und alte Arbeitswelten.
Das Foto zeigt meinen Großvater. Er ist der rechts neben dem mit den Blumen. Die ihn umringen, sind seine Brigade im VEB Schwermaschinenbau Georgi Dimitroff. Vermutlich hält das Bild eine Verabschiedung in die Rente fest und ist spätestens 1971 entstanden, weil dann auch mein Großvater in den Ruhestand ging. Magdeburg war damals die Stadt des Schwermaschinenbaus. Parallel zur Elbe zogen sich von Buckau bis Salbke die Fabriken. Das Messgerätewerk Erich Weinert, das Dimitroff-Werk, das SKET, das SKL, hinten in Salbke die Chemie-Bude Fahlberg-List, 1887 weltweit erster Produzent des Süßstoffs Saccharin. Die Leute im Dimitroff-Werk, um die 3 000 waren es, haben Bagger gebaut, Krane, Förderanlagen. Meinem Opa hat die eigene Rente kein Glück gebracht. Er ist mit 66 Jahren gestorben, ich war damals acht. 1932 hatte er meine Großmutter geheiratet. Sie war aus der Slowakei gekommen, um in der Landwirtschaft “in Stellung zu gehen”, wie sie sagte. Wie sie sich wohl gefühlt hat dabei? Wer hat sie willkommen geheißen und wer nicht? Ich habe sie nie danach gefragt. Als Kind interessiert man sich nicht dafür. Und später ist niemand mehr da, den man fragen kann.
Werk, Wohnung, Kneipe, Bücherei
Meine Großeltern haben in Buckau gewohnt, einem Arbeiter-Stadtteil. Zum Dimitroff-Werk waren es zwei Haltestellen mit der Straßenbahn. Die Zwei-Zimmer-Wohnung hatten sie sich und ihrer vierköpfigen Familie mit Steineklopfen verdient nach dem Krieg. Und weil es die DDR war, gab es immer auch einen Grund zum Subbotnik. Immerhin, der Spielplatz, um den es ging auf dem Foto und auf dem Hof hinterm Haus, war der meine: Klettergerüst, Schaukel, Sandkasten. Wenn ich auch nicht so oft draußen war wie andere Kinder und lieber gelesen habe. Oder mit einem Schulkumpel an der nahen Elbe gestromert bin. Dort wuchsen in Sichtweite des Dimitroff-Werks Brennesseln und Diesteln kindergroß. Wir haben uns damit Duelle geliefert.
Gegenüber der Wohnung meiner Großeltern war ein Selbstbedienungsladen der HO. In der Nebenstraße ein privater Krämer. Ich wurde oft zum Einkaufen geschickt. Einmal hat das Geld nicht gereicht: Die Krämersfrau hatte mir als Stammkunden heimlich etwas in den Beutel getan, eine Bückware wie Apfelsinen oder Bananen. Die Differenz wurde beim nächsten Mal beglichen.
Ebenfalls in Laufweite die Eisdiele Bortscheller, eine Magdeburger Institution. Eine weitere Eisdiele mit der Spezialität Cassata. Natürlich als Cassate verkauft, man war in Machteburch und nicht in Rom. When in Magdeburg, do as the Magdeburgers do. Eine Leihbücherei. Sero-Annahmestellen für die Sekundärrohstoffe Flaschen und Altpapier. Ein Zeitungskiosk, an dem ich vom Taschen- oder Flaschengeld das Mosaik gekauft habe, die Trommel oder die Frösi oder die Atze. Auch zahlreiche Kneipen waren in der Gegend; manchmal hat mich meine Großmutter losgeschickt, ihrem Mann auszurichten, er möge doch jetzt bitte nach Hause kommen. Wenn er mal krakeelt hat, hat meine Oma den Nachbarn gerufen, einen Kollegen aus dem Dimitroff. Der hat dann beruhigende Worte gemurmelt, ihm gesagt, dass er sich schämen solle, und wusste ansonsten auch nicht weiter.
Patenbrigade und Unterricht in der Produktion
Auch die Patenbrigade meiner ersten beiden Schuljahre (danach wechselte ich auf eine Schule mit erweitertem Russisch-Unterricht) kam aus dem Dimitroff-Werk. Patenbrigaden waren der Versuch, Kinder frühzeitig mit Berufen vertraut zu machen. Die Klassen waren ein-, zweimal pro Jahr zu Gast im Betrieb. Vertreter der Patenbrigade wiederum erschienen zu Zeugnisausgaben und hatten Bücher dabei als Prämien für gute Zensuren. Aus ähnlichen Gründen gab es dann später UTP, den Unterrichtstag in der Produktion, PA (Produktive Arbeit.), WPA (Wissenschaftlich-praktische Arbeit), ESP (Einführung in die Sozialistische Produktion) und Technisches Zeichnen. Ich habe so als Schüler Lampen verdrahtet und mit Fassungen versehen und an Bohr- und Drehmaschinen gestanden.
Meine letzte Berührung mit dem Magdeburger Schwermaschinenbau hatte ich im Studium, als ich in den Semesterferien im SKL als Fachtextübersetzer gearbeitet habe. Es ging meist um Lieferungen und Ersatzteillisten für große Schiffsmotoren.
Reste des Dimitroff-Werks machten in Magdeburg unter neuem Namen noch bis Mitte der 90er weiter und dann endgültig dicht. Heute ziehen sich Industrie-Ruinen die Elbe entlang, hier und da besiedelt von kleineren Unternehmen oder gekrönt von einem Loft. Aber die Elbufer-Promenade und der Elbe-Radweg sind schön. Und der Fluss ist auf dem Weg zur Badequalität.
Ist denn die Elbe immer noch dieselbe? Fragt sich der Dom und wundert sich. Ach, lieber Dom, du weißt doch: Niemand steigt zweimal in denselben Fluss.
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