Bild zeigt BuchcoverDer Verlag Das kulturelle Gedächtnis frischt das unsere auf: “Briefe aus der DDR 1989 1990″ versammelt private Korrespondenz, geschrieben zwischen Februar 1989 und November 1990. Gerichtet ist sie an Ingrun Spazier, geboren 1944 in Frankfurt/O. und seit 1988 in Hamburg ansässig.

Briefe aus der DDR – solch ein Titel klingt nach Anruf aus dem Jenseits oder Tales from the Crypt. Die untote Vergangenheit räkelt sich in die Gegenwart und spukt dort herum.

Briefautoren sind die Mutter und der Sohn der Herausgeberin, Freunde und ehemalige Kollegen. Mir ging es beim Lesen, wie Christoph Hein es im Nachwort beschreibt: “Ich war überrascht, dass diese willkürliche Zusammenstellung von privaten Briefen eine sehr lesbare, sogar spannende Lektüre ergab, ein Dokument des für Ostdeutschland, für ganz Deutschland, besonders bedeutsamen Jahres, welches für die beteiligten Zeitgenossen wohl das aufregendste Jahr ihres Lebens war, ein Jahr, das sich von all ihren anderen Jahren unterschied, bei dem sich Tag für Tag ihr gewohntes Leben änderte, wo Hoffnung und Verzweiflung, aussichtsreiche Erwartungen und ohnmächtige Wut sich abwechselten.”

Zur Einordnung der Briefe in die politische Situation nennt das Buch prägende Ereignisse, von der Öffnung der ungarischen Grenze zu Österreich am 2.5.89 bis zur Vereinigung der beiden Deutschländer am 3.10.90. Die Herausgeberin Ingrun Spazier war in der DDR Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Humboldt-Uni und im Staatlichen Filmarchiv. 1988 ist sie zusammen mit ihrer Tochter durch Heirat und Familienzusammenführung nach Hamburg gekommen; ihrem volljährigen Sohn hatte die DDR die Übersiedlung verwehrt.

Gründungsparteitage, Runde Tische und die Abwicklung
Die Schreiber der Briefe waren damals zwischen 25 und 83 Jahren alt, die mittleren Jahrgänge zumeist an Universitäten oder Bibliotheken tätig. Entsprechend reflektiert wirken die Ansichten. Viele Leser werden darin ihre eigenen halb vergessenen Gedanken und Empfindungen wiederfinden. Und wahrscheinlich haben sie die gleichen Bücher wie Sabine, Walter und Anita verschlungen, zum Beispiel Aitmatows Glasnost-Fabel “Die Richtstatt”. Ich jedenfalls habe mich oft wiedererkannt: das naiv-empörte Staunen angesichts der Enthüllungen über Privilegien der Partei- und Staatsoberen in der mutig gewordenen Presse, die Euphorie über den Aufbruch und die frische Luft, das Unbehagen über das plötzlich eingeschlagene Tempo und dessen Richtung. Modrow ein “Don Quichotte unserer Tage”, selbstgerechte und -gefällige neue Repräsentanten. Während die große Abwicklung begonnen hat: “Schon jetzt genügt ein winziger Anstoß, und die Menschen werden wie Wölfe. Auch in unserem Institut.”

Andere haben das als ein willkommenes Ende der sozialistischen Wärmstuben gefeiert. Die Herausgeberin schreibt: “Diese Briefe sprechen für jene, denen alles zu schnell ging, jene, die sich auf Grund der massiven Bevormundung in ihrer Würde verletzt fühlten, und jene, die ihr Ideal vom Sozialismus, von sozialer Gerechtigkeit nicht aufgegeben haben, nur weil diese Begriffe in der Vergangenheit schändlich entwertet worden sind.“

Die Vergangenheit ist nur scheintot. Sie wirkt in die Gegenwart. Und kommt zurück als Utopie, Farce, Verheißung, Parodie. Und da ganz hinten in der Ecke summt einer leise Die Internationale.

Das Buch ist im Verlag “Das kulturelle Gedächtnis” erschienen, hat 240 Seiten und kostet 22 Euro.

 

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