Der Philosoph Richard David Precht und der Soziologe Harald Welzer beschreiben den aktuellen Zustand des Journalismus. Ihr Befund: Er wird seiner aufklärenden Funktion kaum noch gerecht, weil er sich in einem verengten Meinungsspektrum bewegt. So werde Mehrheitsmeinung suggeriert, auch wenn sie keine sei.
Vierte Gewalt ist ein Ausdruck für Medien. Die drei eigentlichen Gewalten sind die Legislative (Gesetzgeber), die Exekutive (Regierung und Verwaltung) und die Judikative (die Rechtsprechung, also die Gerichte). Precht und Welzer untersuchen in ihrem Essay, wie die Vierte Gewalt funktioniert und wieso sich die Mehrheitsmeinung der Medien oft von der Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung unterscheidet.
Die beiden Autoren sind durch ihre Präsenz in Presse, Funk und Fernsehen selbst öffentliche Personen. Precht ist Gastgeber einer Philosophie-Sendung im ZDF und hat im Sender zusammen mit Markus Lanz einen wöchentlichen Podcast über die laut Eigenwerbung “gesellschaftlich und politisch relevanten Themen unserer Zeit”. Welzer ist gelegentlich bis häufig Gast in Talkshows. In Debatten wie der zum Ukraine-Krieg löcken sie wider den Stachel. Und ernten danach Empörung in den Kauf- wie in den sozialen Medien.
In ihrem Buch beschreiben die Autoren, wie solche Erregungsökonomie entsteht und warum mittlerweile 44 Prozent der Bevölkerung meinen, sie könnten ihre Meinung nicht mehr frei äußern. Sie gestehen zu, dass viele ihrer Analysen kaum als Neuigkeit gelten würden. Aber vielleicht auch deshalb außerhalb von Fachkreisen Beachtung fänden, weil sie selbst vielfach in Leitmedien präsent sind. Und also wissen, worüber sie schreiben.
Sie besorgen die Bilder – und ich sorge für den Krieg
Precht und Welzer arbeiten heraus, dass die Rolle von Medien als Meinungsmachern nicht neu ist. Der Times-Redakteur Henry Reeve sah 1855 die Presse als forth estate, der auch den nicht im Parlament vertretenen Bürgern zu ihrem Recht verhilft. In der Folge sorgten Zeitungen auch selbst für die Ereignisse, über die sie berichten wollten: Der Essay zitiert den Herausgeber William Hearst 1898 mit seiner Anweisung an einen Reporter: “Sie besorgen die Bilder – und ich sorge für den Krieg.” Für die Gegenwart und jüngere Vergangenheit nennen Welzer und Precht zahlreiche Beispiele, wie Journalisten Wirklichkeit schaffen. Von der Skandalisierung des Bundespräsidenten Wulff über das Niederschreiben des SPD-Kanzlerkandiaten Steinbrück bis zum Welt-Journalisten, der vom Würstchenstand im Reichstag über gerade stattfindende Sitzungen der sich womöglich auflösenden Fraktionsgemeinschaft von CDU/CSU twitterte. Und dessen Tweets die Teilnehmer der beiden Sitzungen in höchste Erregung und eine “informationelle Diarrhö“ versetzt hätten.
Empörung trendet
Dass viele Medien die gleiche Meinung über politische Ereignisse verbreiten, bezeichnen die Autoren etwas bemüht als Curser-Journalismus. Womit sie meinen, dass Journalisten schauen, wo der Cursor im Textprogramm der anderen Redaktionen steht, und dann auf ähnliche Weise berichten. Dabeisein sei wichtiger als Unabhängigkeit. Keiner will nicht mitgerufen haben, wenn die neueste Sau durchs digitale Dorf getrieben wird. Die grassierende Konformität bei Themen und Einschätzungen der Leitmedien sehen Precht und Welzer nicht als Ergebnis der Verschwörung des Staates oder einzelner Gruppen. Sie interpretieren sie als sich selbst reproduzierende journalistische Echokammer. Weil die Aufregung und Empörung der Direktmedien trenden, färben sie auch auf die Kaufmedien ab.
Vertrauen gewinnen
Die Lösung des Dilemmas sehen die Autoren in einem konstruktiven Journalismus, der sich auf Lösungen fokussiert statt Probleme nur zu skandalisieren, und der sich selbst reflektiert. Sie regen eine stärkere Trennung von öffentlicher Rolle und Privatsphäre an und denken über ein europäisches öffentlich-rechtliches Netzwerk sozialer Medien nach, das nicht mehr den Empörungs- und Klickalgorithmen verpflichtet wäre. Das Neue könnte ja “die Herausarbeitung des Grundes sein, weshalb Armin Laschet während der Rede des Bundespräsidenten gescherzt und gelacht hat – und nicht die Einstimmung in den erwartbaren Empörungschor. Das Neue könnte die Geschichte eines russischen Soldaten sein, der Teil der angreifenden und mordenden Truppen Putins ist, oder die eines ukrainischen Deserteurs, nicht aber die vierhundertste Helden- und Opfergeschichte aus identifikatorischer Perspektive.“
Wer in sozialen Medien registriert, wie sich dort Journalisten und Wissenschaftler als politische Aktivisten engagieren, selbst solche, von denen man es nicht erwartet hätte. Wie sie dafür umjubelt werden von ihrer Blase. Wie die Inhaber missliebiger Meinungen als Pseudo-Intellektuelle mit Häme und Spott bedacht werden. Wie sich Moderatoren im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit zwei ihrer drei Talkshowgäste gegen den dritten verbünden und vereint auf ihn einteufeln – der wird Prechts und Welzers Interpretation nahe an der Realität befinden. Grundlegend Neues haben die beiden tatsächlich nicht herausgefunden. Aber ihr Buch trägt dazu bei, vermeintliche Minderheitenmeinungen aus der Schweigespirale zu holen. Die womöglich ja Mehrheitsmeinung sind.
Und ein andres Schwein kriegt deine Stelle / in der Show und deine angemalte Frau / und so ganz nebenbei auf die Schnelle / machen sie dich in ihrer Zeitung zur Sau. Schreiben nicht Precht/Welzer, sagt Gerhard Gundermann. Ja, genau, der mit der Stasi. Empörung an.
Das Buch ist in den S.-Fischer-Verlagen erschienen, hat 268 Seiten und kostet 22 Euro. Unter diesem Link finden Sie eine Leseprobe sowie Termine mit den Autoren.
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