Was viele – auch ich – für höchst unwahrscheinlich gehalten haben, ist eingetreten: Russland hat die Ukraine angegriffen. Bellizisten aller Länder übertreffen sich in Hurra-Patriotismus.
100 Milliarden mehr für die Bundeswehr. Waffenlieferungen in die Ukraine. Und neben dem heißen ein Propaganda-Krieg in den Medien und Social Media. Wer um Verständnis für die russischen Befürchtungen einer Einkreisung durch NATO-Staaten geworben hatte, steht als Naivling dar, hereingefallen auf Putins Fake-News.
Bei den Kommentaren überwiegen solche wie der von Garri Kasparow, dem Schachweltmeister und -Unternehmer. Er ist für Sanktionen, Waffen, harte Kämpfe – und bedauert, dass Putin nicht schon früher hat als der Diktator angegangen wurde, der er ist. Kasparow fordert die Abberufung aller Botschafter aus Moskau und übersieht womöglich, dass man für den Abbruch von Brücken alternative Flussübergänge benötigt. Stimmen wie die der ukrainisch-russischen Schriftstellerin Natascha Wodin sind eine Ausnahme. Sie plädiert dafür, um der Lebenden willen auf den Widerstand bis zur letzten Patrone zu verzichten, auch wenn Putin kein Recht auf seine Forderungen habe.
Was Putin an moralischem Kredit gehabt haben mag, hat er durch die Invasion restlos verspielt. Und trotzdem irritiert die aufstampfende Rechthaberei, mit der sich die Kalten Krieger im Westen in die Brust werfen. Dass Putin überhaupt vom Kampf gegen Nazis sprechen kann, hat auch damit zu tun, dass es ungesühnte Verbrechen von Rechtsextremen gibt. Wie den Angriff nationalistischer Fußballfans und Demonstranten auf das Gewerkschaftshaus in Odessa im Mai 2014, bei dem mindestens 42 Personen starben, verbrannten, erstickten, zu Tode geprügelt wurden. Ermittlungen hat die Ukraine nur gegen pro-russische Demonstranten eingeleitet, nicht gegen deren Angreifer. Schuldige wurden bis heute nicht ermittelt.
Das rechtfertigt nicht den Angriff. Der Westen, den es so monolithisch natürlich gar nicht gibt, hat die ukrainischen rechtsstaatlichen Defizite jedoch eher verhalten kritisiert und sich auf die russischen konzentriert. Weil in Kiew ja Demokraten an der Macht sind und in Russland ein Autokrat. Und Wahlen selbstverständlich nur und ausschließlich von finsteren Russen mit noch finstereren Absichten manipuliert werden. Auch die Obama-Beraterin “Fuck-the-EU”-Nuland wollte in dieser Lesart selbstverständlich nur das Beste für, tja, für wen auch immer.
Hätte die Situation entspannt werden können, wenn auch die Ukraine stärker zur Einhaltung rechtsstaatlicher Kriterien gedrängt worden wäre? Das mag als müßige, vom Leben überholte Spekulation erscheinen. Spielt aber eine Rolle für die Beurteilung künftiger Konflikte. Und nein, ich kenne weder die Antwort noch die Lösung. Wie auch niemand anderes unter den Journalisten oder Kommentatoren oder Lesern oder hektischen Sondersendungen, auch wenn sie es behaupten. In Social Media bejubeln viele die Milliarden für die Bundeswehr. Ein Ausbau der EU-Eingreiftruppe wurde bereits im vorigen Jahr angekündigt. Beides hilft womöglich, auch um die nibelungentreue Abhängigkeit von den USA zu lindern. Stärkere Muskeln nützen aber nur, wenn der Verstand dahinter sie einzusetzen weiß.
Militärisch kann die Ukraine nicht gegen Russland gewinnen – nicht ohne Weltkrieg. Sollte Putin nicht durch einen internen Putsch entmachtet werden, bleibt politisch also nur die Hoffnung auf einen Verhandlungsfrieden, mit dem die Ukraine sich einen möglichst großen Teil ihres Territoriums bewahrt, dann wohl abgesichert durch eine künftige Neutralität des Landes.
Und menschlich? Menschlich bleibt als Antwort die Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung durch Spenden und die Aufnahme von Flüchtlingen in Ländern, Städten, Wohnungen.
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