Der Schriftsteller Franz Fühmann ist an der DDR verzweifelt. Heute jährt sich sein Todestag. Fühmann starb 1984 an Krebs.

Literarische Bekanntschaft mit Fühmann schloss ich in Moskau. Ab 1984 habe ich dort Internationale Beziehungen studiert. Das war eine feine Mischung aus Sprachen, Regionalwissenschaften, Diplomatischem und Konsularischem Recht. Und dem unabdingbar kräftigen Schuss Marxismus/Leninismus, genießbarer durch Glasnost. (Für alle Neugierigen: Ich hatte in der Schule diverse Russisch-Olympiaden gewonnen, war an Sprachen interessiert, wurde deshalb vom Direktor für Studienangelegenheiten meiner Erweiterten Oberschule für das Auslandsstudium vorgeschlagen und nach dem Bestehen von Zulassungsprüfungen genommen.)

Jedenfalls: Auf der Gorki-Straße, Moskaus Prachtboulevard, heute wieder Twerskaja Ulitza, gab es ein Geschäft für fremdsprachige Bücher. Das hatte oft vorrätig, was in der DDR Bückware war: Volker Braun, Maxie Wander, Christa Wolf, Christoph Hein. So auch Fühmanns Saiäns Fiktschen, eine Sammlung von Kurzgeschichten. Die Dystopie der “Wahrhaft Befreiten Gesellschaft” Uniterr und der Umsetzung der Lehre der Kameraden Klassiker traf bei mir einen Nerv.

In einer der Geschichten, Der Haufen, geht es um die Frage, wieweit die Voraussage der Kameraden Klassiker von der Lösung aller überlieferten philosophischen Probleme durch die Wahrhaft Befreite Gesellschaft erfüllt worden sei. Der Chefphilosoph des Landes antwortet statt eines angemessen vagen Bestens! leichtsinnig: “Ganz und gar vollständig!“ Das Lösungsregister sei bereits in Druck und werde in der nächsten Ausgabe des zuständigen Fachorgans, der Kampfschrift für philosophische Gewissheit, erscheinen. Die vakanten Probleme aus viertausend Jahren Philosophie werden deshalb im Institut zur sofortigen Lösung verteilt.

Diplomkausalitätler Janno erhält das Haufenproblem der Herren Zenon und Eubulides zugeteilt: das Sorites-Paradoxon ab wann eine Menge zum Haufen wird. Sein Freund, der Diplomneutrinologe Jirro, hat eine rettende Idee: Schreiben die Kameraden Klassiker in einem ihrer Werke nicht von einem todesmutigen Haufen nubischer Freiheitskämpfer? Na bitte: Jetzt müsse man nur noch das Massengrab in der Nähe des Kampfplatzes finden … Wer würde schon den Kameraden Klassikern widersprechen wollen. Aber Janno will die richtige Lösung. Was nicht gut für ihn ausgeht bei all den Unter- und Oberdialektikern, den Haupt- und Stabsoptimisten, den angegliederten Hilfsdenkerinnen und dem ebenfalls anwesenden Kameraden Anführer der Hauptstädtischen Kontrolltrupps.

Es gab viele Parallelen zum versteinerten  Sozialismus zu entdecken – inklusive wissenschaftliche Dispute, deren Ergebnis vorher feststeht. Und Formulierungen, die den Widerspruch in sich trugen: “eine unermesslich große Schar von Feinden, doch ihrer ganz wenige” ist mir in Erinnerung. Eine ähnlich opportunistische sprachliche Geschmeidigkeit habe ich später bei Ralph in Joseph Hellers Gut wie Gold gefunden.

Der weitgehend freie Zugang zu Literatur war überhaupt ein Plus des Studiums im Perestroika-Moskau. Sei es im erwähnten Buchladen, in der exzellenten Bibliothek des Instituts oder der Inostranka, der Moskauer Bibliothek fremdsprachiger Literatur. Ich erinnere mich an Stefan Heyms Fünf Tage im Juni und den König David Bericht, an Loests Es geht seinen Gang, an Maxie Wanders Tagebücher und Briefe, an Plenzdorf, Becker, Böll, Erich Fromm, Erich Maria Remarque. Aber keines der Bücher hat mich damals so beeindruckt wie das schmale Fühmann-Bändchen. Vielleicht auch, weil Kommilitonen die Geschichte zu einem Stück umgeschrieben und es zwei-, dreimal  auf die studentische Bühne gebracht haben. Da ich im Besitz eines Trenchcoats und eines Hutes war, habe ich in einer stummen Nebenrolle einen Überwacher gemimt und Fragebogen an die Besucher ausgeteilt: “Sind Sie Mitglied aller gesellschaftlichen und Massen-Organisationen? Seit wann?”

Zuletzt habe ich Fühmanns Wandeln auf Fontanes Spuren verfolgt: Das Ruppiner Tagebuch, posthum erschienen. Und meine Frau hat mir unlängst Prometheus. Die Titanenschlacht geschenkt, seine Nacherzählung der Göttersagen.

Fühmann hat sich vom glühenden Anhänger des Nationalsozialismus zum gläubigen Verfechter des Kommunismus gewandelt. Und rieb sich an dessen Praxis auf. Als Förderer junger Kollegen, als Skeptiker gegenüber dem Schriftstellerverband. In seinem Testament verbat er sich die Teilnahme der Verbandsfunktionäre Kant und Noll an seinem Begräbnis. Und schreibt: “Ich habe grausame Schmerzen. Der bitterste ist der, gescheitert zu sein: In der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft, wie wir sie alle einmal erträumten.”

Es ist kein runder Todestag. Aber ist der Tod nicht immer unrund? Wer eine Blume niederlegen mag: Fühmanns Grab befindet sich auf dem Friedhof in Märkisch Buchholz. Ich hebe mein Glas auf ihn.

 

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