BuchcoverMasha Gessen erkundet das postsowjetische Russland: Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor. Das Buch ist 2017 erstmals erschienen.

Wie lässt sich ein zusammengebrochenes Reich erzählen mit seinen Widersprüchen, den wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Nebenlinien? Gessen erzählt anhand des Lebens von vier Protagonisten, geboren zwischen 1982 und 1985. Für die wissenschaftliche und zeitgeschichtliche Einordnung zieht sie außerdem Leben und Werk der Psychoanalytikerin Arutjunjan, des Soziologen Gudkow und des nationalistischen Philosophen Dugin heran.

Die Autorin wurde 1967 in Moskau geboren. 1981 emigrierte sie mit ihrer Familie in die USA. 1994 kehrte sie als Journalistin nach Russland zurück, das sie 2013  zusammen mit ihrer Frau und zwei Kindern wegen der homophoben Stimmung dann wieder verließ.

Akademiker mit Vitamin B
Die vier Helden im Buch heißen Shanna, Mascha, Serjosha und Ljoscha. In diesem Quartett ist Ljoscha der Einzige ohne Vitamin B. Shannas Vater ist Boris Nemzow, Vize-Premier und kurzzeitig Jelzins Kronprinz. Serjosha ist der Enkel von Gorbatschow-Berater Jakowlew, Maschas Großeltern sind anerkannte Wissenschaftler.

Das Private vermengt sich mit dem Politischen: Jelzin gegen die Putschisten, das Parlament gegen Jelzin, Bergkarabach, Wahlkämpfe und Scheinwahlkämpfe, Kommunisten und Nationalbolschewisten, Nemzow demokratisiert, Putin ist blass, die Orange Revolution, die Oligarchen, Pussy Riot, Nawalny. Die vier und ihre Familien am Rande oder mittendrin: Das Buch ist eine Tour de Force durch Zusammenbruch und Aufbruch.

Wobei der Aufbruch bei Gessen nur zurück zum Homo Sovieticus führt, jenem geduckten, angepassten, obrigkeitshörigen Bürger, der die Diktatur ermöglicht und sich selbst eine Existenz in dieser Diktatur. Gessen illustriert das mit Umfragen. Sie diagnostiziert Russland mit dem Soziologen Magyar als postkommunistischen Mafiastaat. Ideologie sei nicht mehr die tragende Säule, sondern nur noch ein Mittel. Als Muster für die gefragte Denkart der Untertanen nennt sie Doppeldenk, den von George Orwell in 1984 geprägten Begriff. Womöglich hätte das Wort Opportunismus das Phänomen ebenso getroffen.

Klein-Klein und das große Geschäft

Die Einblicke in den Alltag reißen zunächst mit, wirken auf Dauer aber stereotyp: Die Akademiker-Protagonisten sind einander zu ähnlich. Gessen begegnet dem, indem sie Privates ins größere Bild setzt: Ljoschas Coming-out, seine Forschung zur Situation diskriminierter Minderheiten. Manchmal schwurbelt sie oder lässt sich zum Generalisieren verleiten: “Mascha wurde bewusst, dass es dort draußen eine große Welt gab, voller politischer Ereignisse, Menschen und Leidenschaften.” “Kiew war der Ort, an den es jetzt alle zog.” Alle? Auch die Busfahrer, Bauarbeiter, Reinigungskräfte, Zirkusartisten?

Ein weiterer Makel des Buchs: Es verlässt selbst nicht die Pfade der Ideologie. Zum Beispiel, indem es zwar ausführlich die Wahlkämpfe Jelzins beschreibt und dessen russische Politikberater. Aber die umfangreiche Unterstützung Jelzins durch die US-Regierung unter Clinton im Dunkeln lässt. Oder indem es Meinungen ungeprüft übernimmt, wenn sie zum Narrativ passen: Jakowlews sich selbst entschuldigende These, in der Sowjetunion hätte nicht das Politbüro das Sagen gehabt, sondern der KGB. Und wieso Gessen bei der Erklärung des Begriffs nahes Ausland glaubt, “Helsinki und Wien” lägen geographisch näher bei Moskau als “Kiew und Tbilissi“, bleibt ihr Geheimnis.

Gessens Buch erhielt in den USA den National Book Award, Francis Fukuyma (Autor von “Das Ende der Geschichte”) nennt es „faszinierend und tiefgründig“.

Das Buch ist ein Fleiß-Werk mit vielen Tupfern. Für Russland-Interessenten lohnt es die Lektüre. Die Erlebnisse und Gedanken der Protagonisten kann man glauben. Oder sie für Hörensagen halten mit allen damit verbundenen Unwägbarkeiten. Die Vermessung des zusammengebrochenen Reichs und der Psyche seiner Bewohner wirkt mitunter … vermessen. Aber womöglich bin ich ja nur von meinem gebrochenen Knöchel genervt.

Das Buch ist auf Deutsch 2018 bei Suhrkamp erschienen, hat 639 Seiten und kostet 26 Euro.

 

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