Yana Milev plädiert in ihrem Gastbeitrag für eine verfassungsgebundene Basisdemokratie als Alternative zur parlamentarischen Dominanz der BRD-Altparteien. Milev (Jahrgang 1969) ist promovierte Kulturphilosophin sowie habilitierte Soziologin und Ethnografin. 2017 startete sie mit einer Projektleitungsstelle an der Zürcher Hochschule der Künste das soziologische Großprojekt Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90.
Yana Milev
Der Verfassungsputsch in der DDR vom 17. Juni 1990 und die Folgen
Deutschland ist nach 1945 zu keinem Zeitpunkt souverän geworden. Die so genannte «Wiedervereinigung» 1990 wäre eine Chance gewesen.
Was einen Staat legitimiert ist – nach Georg Jelinek – seine Pflicht der Kontrolle und Kuratierung gegenüber Staatsgebiet (Territorium/Grenzen), Staatsvolk (Bevölkerung) und Staatsgewalt (klassische Gewalten wie Judikative, Exekutive, Legislative, sowie die postklassischen Gewalten der Mediokratie und des Lobbyismus). Für diese Staatspflicht, die den Staat legitimiert, steht normalerweise eine Verfassung. Deutschland hat weder das Eine noch das Andere, weder Verfassung, noch begrenztes Territorium (wenn Deutschlands Sicherheit seit 1999 am Hindukusch verteidigt wird), noch einen basisdemokratisch ausgehandelten Gesellschaftsvertrag – einen Vertrag mit dem Volonté générale, dem Gemeinwillen.
1. Die DDR war im Unterschied zur BRD ein Verfassungsstaat
Die DDR war ein Verfassungsstaat, was man von der BRD nicht behaupten kann. Die DDR-Bürger hatten bis zur Annexion der DDR durch die BRD und schließlich bis zu dem Verfassungsputsch am 17. Juni 1990 in der Verfassung [1] festgelegt Rechte. Diese Rechte entsprechen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte [2]. Wenngleich auch einige in dieser Verfassung niedergeschriebene Artikel in der DDR eingeschränkt waren, so sind es u.a. jene 8 Artikel die bis zum Ende der alten DDR im Dezember 1989 Gültigkeit behielten:
1. Recht auf Bildung, Art. 25
2. Recht auf Freizeit und Erholung, Art. 34
3. Recht auf Schutz seiner Gesundheit und seiner Arbeitskraft, Art. 35
4. Ehe, Familie und Mutterschaft stehen unter dem besonderen Schutz des Staates, Art. 38
5. Recht auf Arbeit, Art 24
6. Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich, Art. 20
7. Gleichberechtigung von Mann und Frau, Art. 20
8. Recht auf Wohnen, Art. 37
Diese Grundrechte der DDR-Bürger beriefen sich u.a. auf die Regierungsversprechen der DDR von 1949 «Nie wieder Hunger, nie wieder Obdachlosigkeit, nie wieder Arbeitslosigkeit!». Der DDR-Staat hielt bei allen Komplikationen, Engpässen und Missständen über 40 Jahre an diesen Regierungsversprechen fest, ohne sie zu stürzen. Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Hunger, soziale Missstände mit denen DDR-Bürger ab 1990 in der BRD massiv konfrontiert wurden, gab es in der DDR praktisch nicht.
Das besondere an der DDR-Verfassung, wie sie bis Ende 1989 existierte, sowie auch in der neuen DDR-Verfassung der Reformbewegung von 1989/90 war ihre Bekenntnis zu einem Gesellschaftsvertrag, zu einem Volonté générale, der nicht nur Rechte hat, sondern auch Pflichten kennt. Die DDR war ein Staat in dem der Parlamentarismus als historisch überwunden galt. Und das aus gutem Grund. Das Parlament ist ein Zirkus der Parteien, die jeweils unter dem besonderen Einfluss von Einzelinteressen stehen und von Gewalten wie Medien und Lobbyismus kontrolliert werden. Dieser besondere Einfluss von Einzelinteressen auf den Erfolg einer Partei, von Vermögens-, Investitions- und Akkumulationsinteressen beispielsweise im Wahlkampf, nennt Jean Jaques Rosseau, der Vater der modernen Demokratie, die Bildung der Mehrheitsmeinung, des Volenté de tous. Diese Mehrheitsmeinung ist jedoch nicht identisch mit dem Volonté générale, dem Gemeinwillen, der Basisdemokratie.
Der Parlamentarismus der BRD bietet infolge der Instrumentalisierung von Gewalten (Medien, Lobbyismus) durch Einzelinteressen marktradikalen Kräften eine ideale Plattform, an die Macht zu kommen. Dies geschieht immer auf die Kosten von sozialen Interessen. Üblicherweise protegiert eine Partei in ihrem Wahlkampf soziale Interessen, die jedoch bei einem Wahlsieg deutlich verworfen werden. In der DDR 1990 hiess dieser soziale Werbeanreiz im Wahlkampf der Bonner CDU «Wohlstand für Alle» – eine nie gekannte Massenarbeitslosigkeit war die Folge.
2. Deutschland ist nach 1945 zu keinem Zeitpunkt souverän geworden, auch nach 1990 nicht
Derartige Grundrechte wie in der DDR-Verfassung sind auch im Grundgesetz der BRD verankert. Allerdings ist das Grundgesetz der BRD von 1949 ein Provisorium solange, bis alle Deutsche der Einberufung einer verfassunggebenden Verfassung zustimmen, zur Verfassungsgründung und damit auch zur Staatsgründung, da sich ein Staat nur aufgrund seiner Verfassung legitimiert. So steht es im Artikel 146 dieses Grundgesetzes. Dieser Umstand, dass sich Deutschland als Ganzes seit 1945 keine Verfassung gegeben hat, macht Deutschland seit 1945 zur fremdbestimmten Zone, in der eine verfassungsgebundene staatliche Legitimität, die durch einen Volkssouverän, eine Basisdemokratie kontrolliert wird, nicht vorhanden sind. Daran hat auch der «Zwei-plus-Vier»-Vertrag nichts geändert. Gern spricht die deutsche Regierung davon, dass Deutschland mit «Zwei-plus-Vier» souverän geworden sei. Dann aber hätte der Staat die Pflicht Friedensverträge mit den europäischen Nachbarstaaten einzugehen, was Deutschland bis heute nicht getan hat. Der «Zwei-plus-Vier»-Vertrag war ein Businessplan, in dem die “Sowjets” aus dem Gebiet der DDR mit Mann und Gerät bis 1994 abrückten. Die Westalliierten indes blieben. Erst 2020 rückten die Briten aufgrund des Brexit nach und zogen ihre Streitkräfte aus Deutschland ab. Damit hat wenigstens eine Kontrollmacht der Westalliierten die Bedingungen des «Zwei-plus-Vier»-Vertrags erfüllt. Die Post-DDR ist mit Wirkung von «Zwei-plus-Vier» Teil der westalliierten Zone geworden.
Dass die im Grundgesetz der BRD verankerten Artikel 5, das «Recht auf freie Meinungsäusserung» oder das Bekenntnis, dass «Zensur nicht staatfindet» oder dass «Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre frei sind», oder die in Artikel 18 aufgeführten Grundrechte als Elemente einer freiheitlich demokratischen Grundordnung, Gummiparagraphen sind, zeigte sich vor allem in den letzten 15 Monate, in denen Protestierende gegen die Pandemie-Maßnahmen kriminalisiert wurden, indem Andersdenkende auf den Social Media zensiert und ausgeschlossen wurden, indem die freie Lehre und Forschung marginalisiert wurde, indem Wähler sich am Ende doch wieder einer Mehrheitspolitik (mit anderen Worten Dominanzpolitik des CDU-Regimes) unterworfen sehen. Denn wer bestimmt, dass oder ob die Grundordnung durch freie Meinungsäusserung, durch freie Forschung und Lehre, missbraucht wird (Art. 18)? Wer bestimmt, aus welchem Grund Versammlungen unter freiem Himmel der Grundordnung widersprechen? Dies kann alleine nur der Volenté de tous bestimmen, eine Parteiendominaz, oder ein Parteienverbund (Koalition), die durch entsprechende Gewaltenkontrolle (Medien, Lobbyismus) das Mandat dazu erhalten. So etwas ist nur in einer Regierungsform möglich, wo der Volonté générale, der Gemeinwille, in der Verfassung nicht verankert ist – alleine schon, weil es diese Verfassung gar nicht gibt, da das deutsche Grundgesetz ein Provisorium ist.
3. Der Verfassungsputsch in der DDR am 17. Juni 1990
Die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR 1990 war völkerrechtswidrig, denn das Bonner Kabinett trug seinen Wahlkampf in ein staatsfremdes Territorium. Von langer Hand gründeten Helmut Kohl und Volker Rühe das Wahlkampfbündnis «Allianz für Deutschland» in Westberlin, dem DDR-Politiker (de Maizière, Schnur, Ebeling) pro forma vorstanden. Diese Wahlkampfbündnis wurde als Wahlkampf-Booster des Kohl-Kabinetts in der DDR wirkungsvoll eingesetzt. Gewunken wurde mit der D-Mark zum Preis des schnellen Anschlusses an die BRD nach Art. 23 GG. Am 13. März 1990 wurde die DDR-Reformbewegung gestürzt. Mit der so genannten «ersten freien Volkskammer-Wahl» verschaffte sich die janusköpfige West-Ost-CDU einen deutlichen Vorsprung. Gewählt wurde Helmut Kohls D-Mark über das Plakatgesicht Lothar de Maizières. Damit war die DDR Geschichte. In der Volkskammer saß nun eine Marionettenregierung von Kohls Gnaden, die einen Verfassungsputsch lancierte. Am 17. Juni 1990, auf den Tag genau den die BRD seit 1953 als «Tag der Einheit» mit einem Nationalfeiertag begeht, wurde die DDR-Verfassung mit dem Verfassungsgrundsätzegesetz in der Volkskammer suspendiert, und damit auch DDR-Staat und DDR-Staatsbevölkerung. Bis zum 3. Oktober 1990 war die DDR restlos annektiert, vollstreckt, beschlagnahmt und entkoppelt.
Was die Menschen am 13. März 1990 wählten, durften sie am 3. Oktober im Einigungsvertrag nachlesen. Gefeiert wurden nun Opfer und Dissidenten des «SED-Regimes», gejagt wurden alle Mitglieder der SED, mit oder ohne IM-Hintergrund, einschließlich der Mitglieder der SED-Reformbewegung.
Gehandelt wird dieses Event bis heute als «Wahl mit den Füßen» für einen schnellen «Beitritt». Ganze Behörden wurde horrend subventioniert, um eine Assimilationspolitik, eine Politik der «demokratischen Säuberung», die ein «verordnetes Vergessen» zum Ziel hat, in der Post-DDR wirksam werden zu lassen. Dazu gehört selbstverständlich, dass die 1989 geforderte «Presse- und Meinungsfreiheit» keinen Tag für DDR-Bürger, später Neubürger, galt. Der Begriff «Beitritt» gehört in das Begriffsarsenal der politischen Bildung seit 1990. Damit wird eine Annexionspolitik seit Konrad Adenauer, Jacob Kaiser, Friedrich Ernst, Ludwig Erhard und anderen, ein Verfassungsputsch, eine völkerrechtswidrige Sukzession und eine erinnerungskulturelle Liquidation im Beitrittsgebiet bemäntelt und bagatellisiert.
Die Verharmlosungspolitik um den Art. 23 GG hat allerdings einen Haken. Mit dem ad hoc wiedereingesetzten Saarlandartikel 23 GG konnte der im deutschen Grundgesetz für eine ordentliche Wiedervereinigung der beiden Teilgesellschaften vorgesehene Art. 146 GG geschickt umgangen werden. Nach einem Beitrittsbeschluss in der Nacht vom 22. zum 23.August 1990, dessen Fragwürdigkeit unangezweifelt im Raum steht, da nach 10 Tagen der ad-hoc-Beitrittsartikel 23 aus dem Grundgesetz verschwand und mitnichten bis heute keine verifizierbare Staats- und völkerrechtliche Grundlage für den „Beitritt“ existiert, war da nichts mehr zu korrigieren. Stattdessen rückte der Art. 23 nach 2 Jahren als Europa-Artikel wieder ins GG ein. Hier heißt es jetzt, dass die deutsche „Einheit“ der Beginn einer freiheitliches demokratischen Neuordnung Europas ist.
Warum also haben die Kalten Krieger der BRD wie Schäuble, Köhler, Sarazzin, Waigel 1990 tief in die Trickkiste gegriffen, um dort den Artikel 23 herauszufischen? Um eine Staatsgründung zu umgehen. Denn die BRD hatte sich auch 1949 nicht als Staat gegründet, im Gegensatz zur DDR, sondern als Staatsgebiet lediglich neu organisiert. Eine Staatsgründung beider Teilstaaten so wie es der Artikel 149 GG vorschreibt, wäre also 1990 fällig gewesen. Und dies wäre auch passiert, wäre die DDR nicht in einem Verfassungsputsch erledigt worden. Die DDR-Verfassung, das Staatsrechtssubjekt DDR und das Völkerrechtssubjekt DDR waren die Trophäen gewesen, vor der internationalen Staatengemeinschaft eine Staatsgründung zu erwirken – und schliesslich eine «Vereinigung», die ihren Namen verdient hätte.
4. Die Staatensukzession von 1990 war eine völkerrechtswidrige Annexion
Mit der Annexion der DDR durch die BRD verschwand der verfassungsgebundene Schutz des Volonté générale, des Gemeinwillens, verbürgt in den Bürgerpflichten einerseits und in den Staatspflichten gegenüber dem Staatsbürger und gegenüber der Staatengemeinschaft andererseits. Hierzu wurde die Einhaltung militärischer Neutralität und von Friedensverträgen, allen voran mit der Sowjetunion, später Russland, festgelegt. So sah es die neue Verfassung der DDR von 1990 [3], ausgearbeitet von der Arbeitsgruppe «Neue Verfassung» des Runden Tisches, vor.
Der Pflicht sich selbst nach 1945 eine Verfassung zu geben und damit der Pflicht, einen Staat zu gründen, ist die BRD (im Gegensatz zur DDR) also weder 1949, noch 1952 [4], noch 1990 nachgekommen. Horst Teltschik, der engste Berater Helmut Kohls, begründet dies unverblümt wie folgt: « […] denn wir wollten ja keinen Friedensvertrag. Wir hatten ja schon im Herbst die Anfrage aus Moskau, ob die Bundesregierung möglicherweise bereit sein könnte zu einem Friedensvertrag. Wir haben einen Friedensvertrag von vornherein abgelehnt – nicht zuletzt wegen der Gefahr von Reparationsforderungen. Und da wäre ja nicht nur Griechenland ein Fall gewesen, sondern bekanntlich war das Nazi-Regime mit über 50 Ländern dieser Welt im Kriegszustand. Und stellen Sie sich vor, wir hätten im Rahmen eines Friedensvertrages Reparationsforderungen von über 50 Staaten auf dem Tisch gehabt.» [5]
Viele der einstigen DDR-Bürger wählten ab 2016 die neue Rechtspartei AfD, weil diese Partei in ihren Wahlkampfslogans «Wir hol’n uns unser Land zurück» und «Vollende die Wende» eine erinnerungskulturelle Wahrheit der DDR-Sozialisierten aussprach, die 1988/90 für Meinungsfreiheit-und Pressefreiheit, für die Reformierung ihres Landes aufgestanden sind. Viele der einstigen DDR-Bürger waren 1990 für eine Demokratisierung der DDR, für den Erhalt der Souveränität der DDR, für eine Verfassungsgründung nach Art 146 GG, für eine Konföderation mit der BRD die eine Staatsneugründung einschliesst, angetreten.
Die Losung «Vollende die Wende» kann treffender die Situation nicht benennen. Alles, was die Reformbewegung in der DDR zwischen 1989 und 1990 auf den Weg brachte, einschliesslich des Verfassungsentwurfs «Neue Verfassung der DDR» wurde von dem Coup des Bonner Kabinetts usurpiert und weggeputscht – durch eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR, schliesslich durch eine Annexion. Die «Wende» von 1989/90 in der DDR ist in der Tat noch nicht vollendet! Das von dem DDR-Fotografen Gerd Danigel fotografierte Graffiti «Heimweh nach 89» machte bereits 1992 diese Situation deutlich.
Die AfD, ebenfalls eine West-Partei, hat sich diese Situation 2016 angeeignet und instrumentalisiert. Es handelt sich jedoch nicht um ein Ausländerproblem, das die Regierungsmitte im Osten sehen will, wenn die AfD «Wir hol’n uns unser Land zurück» plakatiert und die ehemaligen DDR-Bürger*innen darauf ansprechen, sondern es ist anders herum: Es handelt sich um einen verfestigten Ost-West-Konflikt, den niemand aus der Regierungsmitte gesehen haben wollte. Die seit 1990 herrschende Dominanzkultur des Westens im Osten impliziert eine neorassistische Stigmatisierung der DDR-Sozialisierten, ihre Marginalisierung und Diskriminierung, ihre Ungleichbehandlung vor dem bundesdeutschen Gesetz, ihren Ausschluss aus Karrieren und politischer Partizipation – schliesslich ihre Migrantisierung (Foroutan) und ihre Gleichsetzung mit muslimischen Migrant*innen. Das ist inzwischen ein zum Selbstverständnis eingeschliffener Mechanismus der Institutionen-West im Osten – und auch, dass keiner von dem Westpersonal so richtig weiß, was der «Ossis» denn hat. Ein ausgewachsener Kolonialstil ist das, sozusagen, der den Osten beherrscht, der aber weder öffentlich kritisiert und erst recht nicht abgeschafft wird. Die AfD-Politik fällt auf einen fruchtbaren Boden, weswegen DDR-Sozialisierte nicht Nazis sind, wie die Gesellschaft-West und ihre Leitmedien wissen wollen. Es ist die einstige Staatsbevölkerung mit damals verfassungsgebundenen Rechten und Pflichten, die als Minderheitenbevölkerung im eigenen Land exiliert wurde [6] und nun in den Widerstand geht. Während das vereinigte Deutschland seine Sicherheit am Hindukusch [7] verteidigt, nimmt die Bundesregierung ein systematisches Ausbluten des Ostens in Kauf [8]. Dieser in der westdeutschen Gesellschaft kaum bemerkte soziale Konflikt im Osten ist die gewaltsame Folge der Annexion, die ihren Anfang im Verfassungsputsch am 17. Juni 1990 hatte.
Der hemmungslose Einmarsch des Bonner Kabinetts in die DDR, die hemmungslose Einmischung in den dortigen Wahlkampf, die Übernahme der «Revolution», die Inamtbringung einer Putschregierung, genannt „erste frei gewählte Volkskammer“, die schließlich am 17. Juni 1990 den Verfassungsputsch ausführte und anderes mehr, all das waren die Elemente einer Annexion – der mit Wohlwollen und Wohlgefallen einflussreicher Akteure in der DDR und der so genannten «Dissidenz» der Weg bereitet wurde. Und deren Folgen bis heute schwer wiegen: Die kritische deutsche Territorialfrage, wie auch die kritische deutsche Souveränitätsfrage (Deutschlandfrage), wie auch die kritische deutsche Verfassungsfrage, wie auch die kritische Frage der Reichs- und NS-Justiz nach 1945 [9], wurde mit der „Wiedervereinigung“ 1990 nicht gelöst! Das Einrücken unter den Bedingungen der Debellation und der Leerwerdung von Gesetzeskraft (im Verfassungs- und Völkerrecht, im öffentlichen und zivilen Recht) heißt im Staatsrecht Staatensukzession. Eine Zession, ob Staatensukzession oder Staatensezession ist eine Annexion, darin sind sich die Staatsrechtler einig.
Die Staatensukzession der BRD in der DDR von 1990 war nichts anderen als die Vollständigwerdung der Subjektsidentität im Völkerrechtssubjekt Deutsches Reich [10]. Somit war das Deutsche Reich, mit dem die BRD seit 1949 identisch war, nie untergangen, weder 1945, noch 1949, noch 1990. Es hatte sich mit der so genannten „Wiedervereinigung“ regeneriert. Diese Zession wäre ein Grund, Deutschland aus der internationalen Staatengemeinschaft zu isolieren. Aber Deutschland hat längst vorgebaut. Mit dem deutschen Leadership des Suprastaates EU ist das praktisch unmöglich geworden.
5. Perspektive: Gesellschaftsvertrag mit dem Volonté générale setzt eine Verfassung voraus
Die liberale Demokratie ist nicht frei. Sie definiert ihre Freiheit auf Aktien- und Kapitalrecht, auf das Vorrecht der privatwirtschaftlichen Märkte. Dieses Vorrecht stellt Menschenrechte und Grundrechte hinten an, wie in den letzten 30 Jahren großräumig beobachtet werden konnte. Die liberale Demokratie ist, obzwar sie im Wertewesten zur einzig gültigen Demokratie stilisiert wird, keine demokratische Alternative. Sie hat sich ab 1990 in der DDR und in den ehemaligen Ländern des Ostblocks selbst ermächtigt, ohne einen Gesellschaftsvertrag mit dem Volonté générale, mit dem Gemeinwillen. Eine Parteienwahl ist kein Gesellschaftsvertrag, das weiß jeder Abiturient. Natürlich gibt es Alternativen zur liberalen Demokratie. Diese kommt ausschließlich von der Basis! Es wird endlich Zeit für eine verfassungsgebundene Basisdemokratie, einen Gesellschaftsvertrag mit dem Volonté générale. Es wird endlich Zeit nachzuholen, was 1990 mutwillig unterbunden wurde!
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Literatur:
[1] Verfassung der DDR, vom 6. April 1968, in der Fassung vom 7. Oktober 1974, In: http://www.documentarchiv.de/ddr/verfddr.html, Stand vom 24. Mai 2021
[2] Resolution der Generalversammlung, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, In: https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf, Stand vom 24. Mai 2021
[3] Verfassung der deutschen Demokratischen Republik, Arbeitsgruppe «Neue Verfassung der DDR» des Runden Tisches, Berlin, April, 1990
[4] Rolf Steininger, Rolf, Eine vertane Chance. Die Stalin-Note vom 10. März 1952 und die Wiedervereinigung, Verlag Neue Gesellschaft, Bonn, 1985
[5] Alle Forderungen erledigt, Horst Teltschik im Gespräch mit Thilko Grieß, In: https://www.deutschlandfunk.de/zwei-plus-vier-vertrag-alle-forderungen-erledigt.694.de.html?dram:article_id=314217&dram:audio_id=352433&dram:play=1, Stand vom 24. Mai 2021
[6] Siehe: Yana Milev, Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90, Band 3: Exil, Peter Lang, Berlin, 2020
[7] Siehe: Matthias Geis, Lob der Ladehemmung, Zeit Online, 12. Februar 2020, In: https://www.zeit.de/2020/08/militaer-deutsche-verteidigungspolitik-bundeswehr-zurueckhaltung/komplettansicht, Stand vom 24. Mai 2021
[8] Siehe: Alfons Frese, «Größte Vernichtung von Produktivvermögen», Der Tagesspiegel, 01.03.2019, In: https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/geburtstag-der-treuhandanstalt-groesste-vernichtung-von-produktivvermoegen/24057242.html, Stand vom 24. Mai 2021
Siehe: Ullrich van der Heyden, «Nie zuvor wurde so viel Humankapital auf den Müll geworfen, Berliner Zeitung, 12.8.2020, In: https://www.berliner-zeitung.de/zeitenwende/ddr-geisteswissenschaft-nie-zuvor-wurde-so-viel-humankapital-auf-den-muell-geworfen-li.97869, Stand vom 24. Mai 2021
[9] Manfred Görtemaker, Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium für Justiz und die NS-Zeit, Schriftenreihe (BD. 10076), Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 2017
[10] Völkerrechtssubjekt Deutsches Reich, 30.05.2015, In: https://www.bundestag.de/webarchiv/Presse/hib/2015_06/380964-380964, Stand vom 24. Mai 2021
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