Bild zeigt BuchcoverWozu ist die Straße da? Zum Marschieren, zum Marschieren um die weite Welt. Das Lied aus dem Film Lumpazivagabundus von 1936 könnte auch das Motto von Gustav Leberecht Schneege sein, genannt Gurke.

Schneege-Gurke ist der Ich-Erzähler in Oskar Schönbergs (1892-1971) Roman Das unsterbliche Luderleben. Das Buch ist bereits in den frühen dreißiger Jahren entstanden. Zu Lebzeiten des Autors unveröffentlich, hat es der Literaturwissenschaftler Thorsten Unger jetzt entstaubt und zur Druckreife geführt.

Gurke, so redet sich der Erzähler oft selbst an, ist arbeitslos, dreißig und seit sechs Jahren auf steter Wanderschaft durch Deutschland. Die Lage ist düster: „Ein graues Gespenst hockt überall herum und schlägt jeden mit seinen harten Knöcheln in das Gesicht. Das Gespenst heißt Arbeitslosigkeit.“

Unger erklärt im Nachwort, worin sich die Fabel im Luderleben von den rund fünfzig vor 1933 erschienenen sogenannten Arbeitslosenromanen unterscheidet. Die Suche nach Arbeit wird in diesen Romanen selbst zur alles bestimmenden Arbeit. Während bei Schönberg die Arbeit eine Chance ist, die Leberecht Schneege je nach Tageslaune wahrnimmt oder ausschlägt. Denn sein Auskommen findet er immer. Auch durch Diebereien und durch Betteln: “Armer Durchreisender, jahrelang ohne Beschäftigung, Frau und Kinder tot, verunglückt …” Eine Magd mit warmer Kammer wird sich finden, die Gesellschaft anderer Tippelbrüder auch, und die Leute am Rhein sind herzlicher als die an der Elbe.

Dass es ihn nach Magdeburg zieht, hat mit einer Frau zu tun: Anna ist eine Bäckergehilfin, die ihm, dem Bettler, trotz eigener Armut 50 Pfennig schenkt. Und die ihm dann nicht aus dem Sinn geht. Er trifft sie tatsächlich wieder. Aber kann er auf Dauer das Lied vom trauten Glück daheim singen – oder zieht es ihn doch wieder auf Wanderschaft, wenn der Lenz alles neu macht? Wie lässt sich recht leben für Leberecht?

Zeitkolorit und Zeitenwandel
Ein Lesegenuss ist der Roman nicht. Hier wogt ein Busen hastig, dort ächzt sie willenlos. Poetische Bilder wirken bemüht. Leberecht selbst, seine Lebensgeschichte, seine Sprache bleiben wenig fassbar, wenn einfache Worte und Gedanken sich  unvermittelt mit Akademiker-Vokabular wie elegisch treffen. Und da Leberecht auch kaltherzig handelt, werden die wenigsten Leser mit dem Protagonisten um seiner selbst willen mitfiebern.

Die Veröffentlichung ist trotzdem ein Gewinn. Weil sie auch durch das ausführliche Nachwort Regional- und Zeitgeschichte ins Bewusstsein rückt. Zum Beispiel ein Magdeburg, dass es seit den Bombennächten so nicht mehr gibt. Und wegen eines Autors, dessen Leben selbst zur Zeitgeschichte taugt.

Schönberg hat in der Buchhaltung Magdeburger Unternehmen gearbeitet, war dann arbeitslos: Wahrscheinlich hat ihn, den Vertrauensmann der Arbeiter, die Maschinenbaufirma Wolf aus politischen Gründen entlassen. Als er den Roman schreibt, ist er Angestellter im Arbeitsamt der Stadt, kennt die Arbeitslosigkeit also von beiden Seiten des Schalters. Er veröffentlicht außerdem Natur- und Wanderlieder in regionalen Zeitschriften und Anthologien, ist Mitglied der SPD. 1933 verliert er wiederum aus politischen Gründen seine Stelle. Er geht in den Widerstand gegen die Braunen, publiziert zusammen mit anderen antifaschistische Flugschriften. Schönberg gerät unter Verdacht, wird 1936 verhaftet. In der Haft erleidet er eine schwere Wirbelsäulenverletzung. Nach der Entlassung verbringt er die nächsten neun Jahre invalide im Bett.

Die Niederlage Deutschlands empfindet er als Befreiung, die DDR als das bessere Deutschland. Er bezieht eine Invalidenrente und Beihilfen als Verfolgter des Naziregimes, kann publizieren, wieder meist in Anthologien. Er wird Mitglied des Schriftstellerverbandes, hat Lesungen, tritt bei Musikveranstaltungen auf, bei Kulturabenden. Er kooperiert mit der Staatssicherheit, stellt ihr ein Zimmer für konspirative Treffen zur Verfügung, schreibt allgemeine Stimmungsberichte, moniert zu hohe Kaffeepreise und zu geringe Renten. Neben Gedichten schreibt er Kantaten; bei der Verbesserung der Kantate Um Deutschland hilft ihm der Gutachter Erich Weinert, als Kabarettist und Dichter ein bekannter Name aus Magdeburg.

Schönberg hofft auch auf eine Veröffentlichung des Luderlebens. Er schreibt den Roman dafür um unter dem neuen Titel Ich bin einer von vielen. Sind im Luderleben politische Auffassungen nur Randthemen, legt die Neufassung Wert auf die Darstellung kommunistischer Positionen und den Kampf gegen Nationalsozialisten, belässt Leberecht aber seinen Einzelgänger-Status. So sehr hat sich Schönberg dann offenbar doch nicht dem Zeitgeist anbiedern wollen. Veröffentlicht wird der Roman auch in der DDR nicht, ein Verlagsgutachten spricht ihm literarische Qualitäten ab.

Womöglich haben in das Luderleben doch Anregungen aus der Posse Nestroys Der böse Geist Lumpacivagabundus oder Das liederliche Kleeblatt gestreut. Vielleicht hat Schönberg eine der beiden früheren Verfilmungen in einem Magdeburger Kino gesehen. Oder das Stück im Theater. Es ist nicht mehr aufzuklären

Der Roman ist selbst wie ein Komet durch die Zeitgeschichte vagabundiert. Sein Autor hat das  Kaiserreich erlebt, die Weimarer Republik, das nationalsozialistische Deutschland, die DDR. Und hat durch sein Buch jetzt eine Post-mortem-Existenz. Schön, wenn Bücher bleiben.

Der Roman ist im Mitteldeutschen Verlag erschienen, hat 368 Seiten und kostet 16 Euro.

 

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