Apathie, Resignation, Aufbegehren, Utopie. Gunnar Decker spürt in seinem Buch Zwischen den Zeiten den späten Jahren der DDR nach und dem intellektuellem Aufbruch.

Gerade hatte ich mal wieder den immer lesenswerten Walter Kempowski mit seinem bisweilen miesepetrigen Tagebuch von 1990 Hamit (erzgebirgisch für Heimat) gelesen. Seine ostdeutschen Schriftsteller-Kollegen betrachtet er darin mit dem kurzen, abschätzenden bis abschätzigen Blick eines Bautzen-Häftlings: “Über Heiner Müller will ich mich nicht äußern, der hat mal was Nettes über mich gesagt.”

Gunnar Decker bietet dazu das perfekte Gegenprogramm: eine Miniatur-Geistesgeschichte der DDR. Decker, Jahrgang 1965, ist in Kühlungsborn geboren und studierter Philosoph. Entgegen dem Untertitel  behandelt er im Buch nicht nur die späten Jahre. Er leitet das Geschehen aus der Geschichte her, vom Aufstand am 17. Juni über den 20. Parteitag der KPdSU bis zur Ausbürgerung Biermanns. Und wirft dabei, das Sein bestimmt das Bewusstsein, auch einen Blick in die Ökonomie. Dass er dabei aus dem persönlichen Erleben berichtet, erhöht den Charme des Erzählten: 2-Zimmerwohnung mit Außenklo in der Warschauer Straße für 20 Mark Miete. Gut für den studentischen Geldbeutel. Schlecht für den Zustand des Hauses.

Manuskripte brennen nicht
Aber im Mittelpunkt des Buchs stehen die Schriftsteller, Maler, Regisseure, Philosophen, Kritiker und Kritikaster, die intellektuellen Wider-den-Stachel-Löcker. Wer in den 70er, 80er Jahren dabei war, findet sie wieder, die Kunstwerke, die viele bewegt haben. Weil die DDR ein Staat von der Sowjetunion Gnaden war, würdigt Decker auch Werke sowjetischer Künstler , die zum Aufbruch in Ostdeutschland beigetragen haben. Von der in den Sechzigern erstmals  verlegten Teufeliade Bulgakows Der Meister und Margarita über Schatrows Stück Weiter, weiter, weiter bis Abudladses Film Die Reue. Nina Andrejewa tritt auf, deren ganzseitiger  Leserbrief in der Zeitung Sowjetskaja Rossija “Ich kann meine Prinzipien nicht aufgeben”, prompt nachgedruckt im Neuen Deutschland, ein orchestrierter Versuch war, Perestroika und Glasnost den Garaus zu machen. Und natürlich finden sich all die Künstler im Ländchen, die Bückware produzierten, schon ausgereist waren oder ihren eigenen Weg zwischen Anbiederung und Ausbürgerung gesucht haben. Volker Braun, Erich Loest, Christoph Hein, Jurek Becker, Stephan Hermlin, Heiner Müller, Stefan Heym, Konrad Wolf, Rudolf Bahro, Sarah Kirsch, Christa Wolf, die Strittmatters, Dean Read (!), Alfred Wellm, Hermann Kant, Günter de Bruyn, Dieter Noll, Cornelia Schleime, die Prenzlauer-Berg-Szene. Und immer wieder Franz Fühmann.

Vielleicht ist es Fühmann, der in einem von Decker zitierten Brief die Zerrissenheit am schlüssigsten komprimiert hat: “Ich weiß, dass es dort [im Westen, MK) eisig kalt ist, aber wie soll man den Zustand bei uns bezeichnen? Vielleicht als den schönen Mief voll Sauerstoffmangel, in dem es sich oft schwerer atmen lässt als in der Eisluft, und dann ist es eine müßige Frage, welcher Tod vorzuziehen ist: Ersticken oder Erfrieren.”

Das Buch balanciert an einer berauschenden Materialfülle entlang, die es mitunter auch in die Vereinfachung zwingt. Dann fallen Verdikte schlagwortig und dürr aus, wie das über Honecker als Politiker von mittelmäßigem Geist oder das über Gorbatschow, “Realist und Utopist zugleich”.

Ein detailreicher, liebevoller Rückblick auf das Ringen um die Utopie. Und ein kenntnisreiches Plädoyer für dabei entstandene Kunst. Die Verteidigungsrede wird das Westgericht nicht von seinem Urteil über angebliche Staatskunst abbringen. Aber es ist spannend wie Rob Reiners “Im Namen der Ehre.” Ruft da etwa jemand „Sie können die Wahrheit doch gar nicht vertragen!“?

Das Buch ist im Aufbau-Verlag erschienen, hat 432 Seiten und kostet 28 Euro. Der Link im vorigen Satz führt auch zu einer Leseprobe und zu Terminen von Lesungen.

 

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