Ein Wörterbuch nimmt sich die Sprache der Einheit vor. Also das Westdeutsche. In Jürgen Großes Fremdwörterbuch belegen 2000 Wörter und Wendungen sowie 300 Zitate westdeutsches Sprachleben.
“England und Amerika haben heute alles gemeinsam, die Sprache natürlich ausgenommen.” Das Zitat von Oscar Wilde leitet das Vorwort ein und setzt den Ton. Große, Jahrgang 1963, Historiker und Philosoph, unterscheidet zwischen Hochdeutsch, das im Osten gesprochen werde, und durch jahrzehntelange Deformationen geprägtes Westdeutsch: Antragsdeutsch, Neonarzissmus, Schnöselsprech, Betroffenheitliches, Habermasdeutsch, Spiegelsprache.
Jürgen Großes Abwertung alles Westdeutschen spiegelt ins Kenntliche verzerrt die Haltung des Westens gegenüber dem Osten. Diese Chuzpe, die es schafft, das parteisozialistische DDR-Deutsch mit keiner Silbe zu erwähnen, zieht sich durch alle Beispiele des Buchs – von A wie abartig bis Z wie zwischenzeitlich. Die Zonengaby, Zonen-Zombies, zensurieren und Zielgruppe kommen bei den 55 Z-Wörtern auch noch vor.
Die Erläuterungen der Begriffe reichen von einzeiligen Verweisen bis zu mehrseitigen Erläuterungen. Wie bei der Diskurshoheit, der Große fast völliges Ausgestorbensein attestiert – und das auf drei Seiten mit Hieben gegen Habermas, Verweisen auf das Dunkeldeutsche, auf Jovialsprech und zahlreiche weitere Neben- und Sackgassen. Es ist ein Buch zum Blättern. Ich schlage es aufs Gratewohl auf, folge Verweisen, grinse, runzele die Stirn. Unter -> Fehler treffe ich auf Helmut Kohl mit seinen Spenden: “Das ist der Fehler, den ich bekenne und den ich auch sehr bedauere.”
Am besten gelingen Große die kurzen Erläuterungen. Wie die zu -> blühende Landschaften: “Industrielandschaften, über die Gras gewachsen ist; eine Wortprägung des oft verkannten Ökologen Helmut Kohl”. Er kann noch böser. Etwa wenn er ein Nietzsche-Zitat über nicht gut riechende polnische Juden zu einem Zitat des Schriftstellers Michael Rutschky über nach Angstschweiß riechende Ostdeutsche in Beziehung setzt.
Manche Begriffe wirken arg zufällig: Ja? definiert Große als Begrüßungsformel im Jovialsprech von Einrichtungen, “in denen man sich einen klaren Blick für die Würstchenhaftigkeit des → Individuums bewahrt hat”. Bei längeren Erläuterungen scheint er sich mitunter in Antipathien gegen zitierte Journalisten, Politiker, Schriftsteller zu verheddern. Und manchmal polemisiert er um der Polemik willen: Der Begriff jüdisches Leben ist nicht nur wie von ihm beschrieben eine verbale Jovialitätsgeste nichtjüdischer Mitbürger. Allein in der Wochenzeitung Jüdische Allgemeine finden sich für den Begriff 2000 Suchergebnisse.
Ein Zwitter aus Satire und Anspruch. Für eng getaktete Pointen zu dick, aber gut geeignet als Fundgrube für Absonderlichkeiten im Umgang von West mit Ost.
Das Buch ist im Vergangenheitsverlag erschienen, hat 572 Seiten und kostet 24,99.
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Der Autor antwortet:
Schwungvoll geschrieben und amüsant zu lesen, wie auch die anderen Rezensionen hier. In zwei wesentlichen Punkten hat der Rezensent jedoch nicht richtig gelesen.
- Bei „jüdisches Leben“ ist schlicht mein Thema verfehlt. Worum ging es mir? Gewisse übereifrige Gojim wie Heiko Maas haben den Bedeutungsumfang der Wendung längst ins platt Biologische erweitert. Das geschah in sicherlich gut gemeinter Betreuungsabsicht. So entstand aber ein anderer, deutlich luftigerer Wortsinn als der religiöse. Auf letzteren beziehen sich gewöhnlich die jüdischen Gemeindezeitungen. Beeindruckend trotzdem das Google-Zählergebnis!
- Völlig falsch ist „Diskurshoheit“ wiedergegeben, der ich angeblich fast vollständiges Verschwinden attestiere. Das tue ich gerade nicht. Ich spreche vielmehr vom Verschwinden der älteren Bedeutung (Abhandlung, Erörterung), unter dem – in der BRD – dominanten Einfluß der Habermasschen Verwendungsweise. Sie hat das Wort massen(medien)tauglich gemacht. Popularisierung durch Trivialisierung einer Theorie, kein Einzelfall.
Mit bestem Gruß
J. G.