Bild zeigt BuchcoverIst der Mensch dem Menschen ein Wolf? Verdeckt nur ein dünner Firnis aus Zivilisation den überall lauernden Abgrund? Der Historiker Rutger Bregman findet überraschende Antworten.

Haben Sie es auch gesehen, dieses Video der Frauen in Australien? In einem Supermarkt  streiten sie sich um Toilettenpapier, schubsen sich, ziehen sich an den Haaren. Vom Redaktionsnetzwerk Deutschland über die FAZ bis zum ZDF haben alle darüber berichtet, manche Medien haben den Link ins Video gleich mitgeliefert. Bringen drohende Katastrophen wie Corona in den Menschen nur das Schlechteste zum Vorschein? Vielleicht weil die Menschen in sich schlecht sind?

Bregman behauptet: Die meisten Menschen sind im Grunde gut. Besser noch: Er belegt es mit zahlreichen Beispielen.

Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, ist eine These des Philosophen Thomas Hobbes (1588-1679). Er bezog den Ausspruch auf das Verhältnis zwischen Staaten. Aber auch den Menschen sah er in einem Naturzustand aus Furcht, Ruhmsucht und Unsicherheit. Der nur durch die Gründung eines Staates zu überwinden sei, der die Menschen voreinander schützt. Bregman sieht Hobbes als Rechtfertigung des Standpunkts von Direktoren, Diktatoren, Generälen: “Gebt uns die Macht, sonst läuft es schief.”

Von Wölfen und Füchsen
Nur: Hobbes habe den Naturzustand der Menschen falsch eingeschätzt, sagt Bregman. Der Mensch sei nicht wegen eines “Survival of the fittest” Sieger der Evolution. Sondern weil es ein “Survival of the friendliest” gegeben habe , ein Überleben der Freundlichsten: “Menschen scheinen supersoziale Lernmaschinen zu sein.” Sie erröten – eine soziale Fähigkeit, die zum Ausdruck bringt, dass sie etwas darauf geben, was andere von ihnen halten. Während die mehr als 200 anderen Primaten-Arten mit dem Pigmentstoff Melanin ihre Augen verdunkeln, um gleich Mafiosi mit Sonnenbrillen ihre Blickrichtung zu verbergen, zeigen Menschen das Weiß ihrer Augen.

Bregman beschreibt ein Experiment sowjetischer Zoologen und Genetiker, denen es gelungen ist, Füchse zu domestizieren, indem sie nur die freundlichsten Exemplare zur Weiterzucht auswählten. Die Füchse wurden im Laufe des Versuchs zu Haustieren – geringelte Schwänze, Bellen, Schlappohren. Laut den Forschern hatten die freundlichen Füchse weniger Stresshormone, dafür mehr Serotonin und mehr Oxytocin, die Glücks- und Kuschelharmone. Wer einen intelligenten Fuchs wolle, selektiere nicht nach Schlauheit, sondern nach Freundlichkeit. Und das lasse sich auch auf Menschen beziehen.

Die als Nomaden umherziehenden ersten Menschen kannten demnach kaum kriegerische Auseinandersetzungen. Sie legten Wert auf Gleichheit, auch zwischen den Geschlechtern, und ließen Machtunterschiede allenfalls vorübergehend zu. Das Unglück beginnt bei Bregman mit der Zivilisation – mit Privateigentum, Sesshaftigkeit und neuen Machtstrukturen. “Der Mensch ist frei geboren, und überall befindet er sich in Ketten“, zitiert Bregman den Aufklärer Rousseau. Und bilanziert: “Wenn die Geschichte der Zivilisation nur einen Tag andauern würde, wären es 23 Stunden und 45 Minuten bitteres Elend gewesen; allein in den letzten 15 Minuten würde sie sich plötzlich als großartige Idee erweisen.” Uff. Glück gehabt, unberufen.

Macht korrumpiert
Dass Problem mit der Macht illustriert eine von Bregman zitierte Studie aus dem Jahr 1998, benannt nach dem Krümelmonster aus der Sesamstraße. Dafür wurden Gruppen aus je drei Personen in ein Labor eingeladen. Einer der Teilnehmer wurde in jeder Gruppe als Anführer ausgelost. Dann hatten die Gruppen sehr langweilige Aufgaben zu lösen. Dabei wurden den drei Teilnehmern fünf Kekse gereicht. Immer blieb ein Anstandskeks liegen, aber der vierte Keks verschwand in aller Regel im Mund des Anführers. Mehr noch: Der Anführer fing nachlässiger an zu essen, krümelte und schmatzte mehr. Schließlich war er der Anführer. Dieselbe Forschergruppe belegte später in einem weiteren Experiment, dass Fahrer teurer Autos weniger geneigt sind, an Zebrastreifen anzuhalten (Falls Sie sich jetzt fragen, wer am schlimmsten war: BMW-Fahrer).

Dieses Verhalten erinnerte die Forscher an Acquired sociapathy. Das ist ein medizinischer Fachbegriff für eine antisoziale Persönlichkeitsstörung, die zum Beispiel durch eine Schädigung des Gehirns nach einem Schlag auf den Kopf ensteht. “Man ahnt es schon: Mächtige Menschen haben die gleichen Neigungen. Sie verhalten sich so, als hätten sie einen Hirnschaden erlitten.”

Altruismus statt Verbrechen

Die soziale Natur der Menschen zeige sich besonders bei Katastrophen, bei Hungersnöten, Überschwemmungen, Epidemien. 1963 hat das Disaster Resarch Center dazu 700 Feldstudien ausgewertet. Und dabei festgestellt, dass im Gegensatz zu den Darstellungen in den meisten Spielfilmen bei Katastrophen keine Welle des Egoismus aufbrandet. Die Zahl der Verbrechen nehme ab, die Leute würden einander helfen. Bregman konkretisiert dies am Beispiel des Hurrikans Katrina. 2005 brachen in New Orleans die Deiche, 80 Prozent der Häuser wurden überflutet, fast 2.000 Menschen starben.

Die Medien waren voller Berichte über Vergewaltigungen und Schießereien, durchgeschnittene Kehlen von Babys, Schüsse eines Scharfschützen auf Rettungshubschrauber. Der Polizeichef, der Gouverneur prophezeiten Anarchie. Und der renommierte Historiker Timothy Garton Ash schrieb: “Man entferne die Grundelemente eines geordneten, zivilisierten Lebens […], und wir fallen innerhalb weniger Stunden in einen Hobbes’schen Urzustand zurück, einen Krieg jeder gegen jeden.”

Jedoch: Als die Journalisten verschwunden waren und die Wissenschaftler kamen, änderte sich das Bild: Die Schüsse des Scharfschützen waren klappernde Ventile eines Wassertanks. Morde und Vergewaltigungen gab es nicht. Plünderungen schon, oft aber von Gruppen, die gemeinsam ihr Überleben sicherten, manchmal sogar in Kooperation mit der Polizei.

Bregman zerlegt außerdem eines der am meisten zitierten Experimente der Sozialpsychologie, das Stanford-Prison-Experiment Philip Zimbardos  von 1971. Zimbardo teilte 24 Probanden willkürlich in Gruppen von Häftlingen und Wärtern. Als Wärter eingeteilte Probanden begannen damit, die Häftlinge sadistisch zu terrorisieren – für Zimbardo der gesuchte Beweis, dass normale Menschen sich in Tiere verwandeln können. Jahrzehnte geisterte das Experiment unwidersprochen durch die wissenschaftliche Literatur, beeinflusste Bücher und Filme. Dann stellte es sich als komplette Fäschung heraus. Weil die Forscher die Wärter über ihr zu zeigendes Verhalten instruiert hatten, um zu den gewünschten Resultaten zu kommen. Eine 2002 durchgeführte Wiederholung des Experiments ohne diese Manipulationen habe solidarisches Verhalten zwischen Wärtern und Gefangenen gezeigt, schreibt Bregman. Dass Zimbardos Ergebnisse so lange Zeit unwidersprochen blieben, habe an dessen Reputation als Professor der Stanford University gelegen.

Anlass für Optimismus
Bürgerhaushalte, Unternehmen ohne bevormundende Management-Strukuren, gemeinsamer Besitz, helfendes Mitgefühl statt lähmender Empathie – das Buch endet mit Anregungen und Beispielen, wie aus Vertrauen und dem Willen zu freundschaftlicher Güte gemeinschaftlicher Nutzen erwächst. Bregman rät deshalb auch zu einer Abkehr von jener Art des Aktivismus, die Weltverbesserung behauptet und doch nur mit Rechthaberei und dem eigenen Image beschäftigt ist.

Der Untertitel des Buches lautet Eine neue Geschichte der Menschheit. Es schreibt an dieser Geschichte mit einer Fülle von Beispielen, Querverweisen, verblüffenden Einsichten, Anregungen zum Weiterdenken. Aufgeblättert im Plauderton. Das Buch belehrt, bildet, amüsiert, schockiert und ist ein starker Appell: Nehmen Sie zuerst einmal das Gute an.

Das Buch ist im Rowohlt-Verlag erschienen, hat 480 Seiten und kostet 24 Euro. Über den Link finden Sie auch eine Leseprobe.

Zusätzliche Informationen:

 

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