Bild zeigt BuchcoverYana Milevs Essay stellt die Demokratie auf den Prüfstand. Und findet dabei jede Menge schlecht lackierte Dellen. Ihr Befund: In Deutschland läuft nur noch eine Demokratie-Show. Wer dazugehören darf, das bestimmt ein neoliberales Establishment.

Milev ist promovierte Kulturphilosophin und habilitierte Soziologin. Ihr jüngstes Projekt heißt “Entkoppelte Gesellschaft. Liberalisierung und Widerstand in Ostdeutschland seit 1989/90. Ein soziologisches Laboratorium”. Der Essay kann als Einführung in dieses Projekt gelesen werden, steht aber auch für sich selbst.

Milev beginnt mit dem Begriff Postdemokratie, eingebracht vor knapp 15 Jahren vom britischen Politikwissenschaftler Colin Crouch. Sie teilt dessen Auffassung, dass in der westlichen Welt große Teile der Gesellschaft verdummen, während eine Scheindemokratie als Show inszeniert wird – zum Nutzen neoliberaler Eliten in Wirtschaft, Medien, Wissenschaft und Politik.

Im Ergebnis sei eine defekte Demokratie entstanden. Ihre Defekte beträfen Teilhaberecht, Gewaltenkontrolle oder Gleichheit. Die Balance zwischen Freiheit und Gleichheit als Basis des Rechtsstaats funktioniere nicht mehr. Während sich eine Lobbykratie im Interesse ihrer Auftraggeber Gesetze schreiben lasse, sorge eine Mediokratie für Ablenkung: durch Medien-Events als symbolische Handlungen und Scheinpolitik.

Hier wie überall im Buch stellt Milev den Bezug zu Ostdeutschland her: Der Staatsanschluss der DDR an die BRD nach Artikel 23 Grundgesetz habe zur Annullierung von Zivilrechten der Bevölkerung geführt, wie dem Schutz des Wohnraums. “Die ab 1990 eingesetzten Akteure waren Westdeutsche, bzw. Altbundesbürger, die im Stand ihres bürgerlichen Privilegs die ostdeutsche Bevölkerung, also die Neubürger, enteigneten. Die Enteignung betraf Arbeits-, Lebens- und Wohnraum, Vermögen und Besitz (Volkseigentum), Legitimität und Stimmrecht sowie Entwertung von Berufsabschlüssen, Titeln, Lebensleitung [sicherlich gemeint: Lebensleistung, MK], kulturellen Leistungen und der Erinnerungskultur.“  Das sei ein “unvergleichlicher, vom Bundesgesetz legalisierter, krimineller Tatbestand.“

Milev führt dafür den Begriff normativer Populismus ein – eine „rhetorische Dynamik durch Medien und Publikative zur Durchsetzung der neoliberalen Marktordnung“.  Damit erweitert sie den liberalen Populismus und seinen moralischen Diskurs um die Dimension des trügerischen Scheins. Der normative Populismus verkünde Political Correctness und tendiere dazu, das “Andere” abzuwerten – zum Beispiel, indem es in die “Nazi-Ecke” gerückt werde, um Stimmen gegen die Globalisierung zu diskreditieren. Während die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf den Kampf gegen einen rechten Populismus konzentriert werde, gehe die tatsächliche Beschädigung der Demokratie vom normativen Populismus aus, von der etablierten demokratischen Mitte. Der normative Populismus schrecke dabei vor Strategien der Spannung nicht zurück.

Zur Begründung ihrer Thesen analysiert Milev unter anderem die Ereignisse vom August/September 2018 in Chemnitz. Nach einem tödlichen Messerangriff durch einen Flüchtling kam es in der Stadt zu Protesten gegen die Tat sowie gegen die Asylpolitik Deutschlands. Die Berichterstattung stellte diese Proteste vor allem als Ausschreitungen dar. Milev schreibt: “Was derzeit in Sachsen eskaliert , ist kein Nazi-Problem, sondern ein Ost-West-Konflikt, der seit 1990 mit der neoliberalen Annexion des Ostens durch den Westen installiert und mit ihm ein Großteil der ostdeutschen Bevölkerung der Herabsetzung preisgegeben wurde. Was hier eskaliert, ist ein Protest-Stau der Ostdeutschen gegen einen westdeutschen Kultur-Kolonialismus [...]“

Zu diesem Kolonialismus zählt sie die fortwährende Skandalisierung von Ereignissen in der DDR wie der Fälschungen bei den Kommunalwahlen 1989 bei weitgehendem Beschweigen ähnlich krimineller Tatbestände im Nachwende-Deutschland. Als Beispiel dafür nennt Milev den Treuhandskandal oder statistische Manipulationen rund um die Agenda 2010 – fiktive Stellenangebote und falsche Vermittlungsstatistiken, die Notwendigkeit und Erfolg der Schröderschen Reformen belegen sollten. Wie bei einer Drehtür würden Akteure zwischen Politik und Wirtschaft wechseln. Gefordert werde aber vor allem mehr Aufklärung der “SED-Diktatur”.

Demokratie in Not?
Ein liberaler Populismus, der seine moralische Überlegenheit über die DDR in Gesellschaft, Geschichte und Kultur hemmungslos etabliert. Und ein normativer Populismus, der dies mit Pauschalurteilen untermauert – hier entsteht laut Milev Schaden an der Demokratie. Getragen werde der normative Populismus von Bundesbehörden und Bundesstiftungen, von supranationalen Gebilden, wie der UNO, der NATO, der EU, von Think Tanks, Stiftungen und von Nichtregierungsorganisationen. Bei der Agenda 2030 der UNO und ihrem Global Compact for Migration gelte im Interesse von Globalisierung der Rechtsschutz den Zugewanderten, jedoch nicht den Ansässigen. Dabei würden sich Globalisierungskritiker der kosmopolitischen Linken mittlerweile mit den Akteuren der Globalisierung verbünden, um sich von neuen rechten Gegnern abgrenzen zu können. Normativer Populismus im Dienst der Märkte.

Und der Osten? Hier verfange der normative Populismus weniger, weil die von Medien verbreiteten Urteile sich vom eigenen Erleben deutlich unterscheiden würden. Eine liberale Demokratie, in der Regierungsparteien klandestine Großgeschäfte verteidigen, in der die Ungleichheit zunimmt, in der Daten überwacht und Feindbilder inszeniert werden – für viele “Exil-Ostdeutsche”, so Milevs Begriff für die DDR-Bürger im anderen Land, sei der Unterschied zum demokratischen Zentralismus der DDR kaum wahrnehmbar. Sie prognostiziert, dass die Traumatisierung der Ostdeutschen durch die Wende noch zwei, drei Generationen andauere, zumal sie an nicht verarbeitete Kriegstraumata anschließe.

Wie kann die defekte Demokratie repariert werden? Ein Weg bestehe darin, die Erfahrungen der Ostdeutschen, ihre Meinungen und Entwürfe, die sich aus der systemischen Doppelerfahrung und ihrer Brüche speisten, zu integrieren. Yana Milev attestiert uns Ostlern eine “einzigartige soziale Resilienz [psychische Widerstandsfähigkeit bei der Bewältigung von Krisen, M.K] und eine politische Feldkompetenz.” Einen weiteren Ausweg sieht sie in der Regionalisierung – mit einer Parteienpolitik in den Landtagen und einer Städte- und Regionalpolitik.

Die deutsche Frage hält Yana Milev für unbeantwortet und die Einheit für unvollendet. Sie tritt deshalb für eine verfassungsgebende Versammlung ein, für die Neugründung des Staates und anschließende Friedensverträge mit den Nachbarn. Und bis dahin? Eine Symbolwelt im Exil. Mit Hashtags wie #WirSindEinVolkUndIhrEinAnderes, #ImOstenGehtdieSonneAuf, #WirWollenKeineWessisSein.

Ein faktenreiches Buch, das sich auch Wissenschaftslaien erschließt. Begriffe wie Demokratieraison oder Simulakrum kann man bei Interesse ja nachschlagen. Einer Neuauflage wäre ein für Tippfehler aufmerksameres Lektorat zu wünschen.

Manche Thesen sind so steil, dass außer Puste gerät, wer ihnen folgt. Aber das Dranbleiben lohnt sich. Milev bringt eine hörenswerte Stimme und Tonlage ein in die veröffentlichte Meinung. Möge ihr Essay viele Leser finden.

Das Buch ist im Agenda-Verlag erschienen, hat 114 Seiten und kostet 17,90 Euro.

Siehe auch:
Ausgeschlossen. Ein Gastbeitrag Yana Milevs

 

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