Ein Frau betritt vorsichtig einen Fahrstuhl. Geht’s für sie nach oben, geht’s nach unten? Bernd Cramers Fotos bildet den Moment ab in seiner Unsicherheit und seinen Möglichkeiten.
Der Bildband vereint Fotos aus Ostdeutschland von 1985 bis knapp vor jetzt. Die meisten sind nach 2015 entstanden, viele in Leipzig. Dort wurde Cramer 1970 geboren. In einem Bild von 1991 stehen zwei mit Mörtel bedeckte Schubkarren rücklings an einer Wand mit der verblassenden Aufschrift “Alles für den Frieden”. Die Aufnahme wirkt so, als ständen die Karren schon seit einem Jahr dort und würden auch noch das nächste dort stehen. Wohin sind die Arbeiter entschwunden? Vielleicht sind sie in das Bild links daneben entschlüpft und in den Westen gefahren auf Montage. Es zeigt ein Fenster des Leipziger Hauptbahnhofs mit trister Gardine, einem Schild Zimmer frei und einem weiteren, das Rollstühle auf Zeit offeriert. Manche der Doppelseiten irritieren mit Widersprüchen: Kinder mit asiatischen Gesichtszügen auf der einen Seite. Grimmige junge und alte Männer auf einer Demonstration gegen den Islam auf der anderen. Ein junges, entfremdet wirkendes Paar mit Kind, 2018. Nebenan ein altes Paar 1994 in vollgekramter Küche, er im Schlüpper, sie schneidet ihm die Haare. Mit sich im Reinen? Wer kann das sagen.
Die ausführliche Einleitung zum Buch hat der Kulturhistoriker Bernd Lindner geschrieben. Er interpretiert die Fotos als Reflexionen einer fortgesetzten Übergangszeit, setzt sie in Bezug zu Volker Brauns Stück “Übergangsgesellschaft”, bei dem die Gegenwart marode ist und die Utopie ungewiss. “Das Ende der DDR war für viele Ostdeutsche nicht gleichzusetzen mit einem Gewinn an sicheren Zukunftsperspektiven”, schreibt Lindner. Und so sieht er die Kostüme der Cosplayer auf einem Foto als Flucht in einen Traum. Und ja, die Anspannung der hektisch telefonierenden drei Geschäftsleute auf dem Geländer der Neuen Messe lässt sich spüren. Nicht genügend Abschlüsse womöglich?
Auch das Schwarz-Weiß der Fotos suggeriert Unbehaustheit und Tristesse – die der Bildband aber zum Glück auch durchbricht. Denn wie dieses Blog nicht müde wird zu betonen: Das Leben ist bunter als schwarz und weiß. Und wenn “Beyer’s Lebensmittel- und Getränkemarkt” von Seite 52/53, dessen Eröffnung für den 2. März 92, 9 Uhr, verkündet wird, auch so hoffnungslos aussieht, dass es ihn wohl bereits 1993 nicht mehr geben wird – Fotos vom Cospudener See, einer Plagwitzer Anarcho-Friseurin oder eines nicht mehr jungen Paares, das die Titanic-Pose Kate Winslets und Leonardo DiCaprios auf ihrem Kleinboot nachstellt, lassen ahnen: Auch in der Verunsicherung finden sich Haltepunkte.
Berührende Fotos laden zum Spinnen spannender Geschichten ein. Denken Sie dabei aber ja nicht nur daran, was bei Ihnen schiefgegangen ist. Oder was demnächst aus dem Ruder laufen könnte. Denken Sie vor allem an diesen wunderbaren Abend im Mai.
Das Buch ist im Mitteldeutschen Verlag erschienen, hat 160 Seiten und kostet 25 Euro.
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