Bild zeigt CoverDaniela Dahn geht aufs Ganze. Mit alttestamentarischem Furor listet sie die vergifteten Früchte der Einheit auf.

Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt? Zum Einstieg nimmt sich die Schriftstellerin und Publizistin Daniela Dahn eines der bekanntesten Gleichnisse Jesu aus dem Neuen Testament vor. Und attestiert nebenher einen Übersetzungsfehler, weil bei der Übertragung aus dem Aramäischen ins Griechische das fast buchstabengleiche Wort Schiffstau mit Kamel verwechselt worden sei. [Was mich darauf bringt: Nachdem schon die 72 Jungfrauen, die laut Koran im Paradies auf muslimische Männer warten, eine Fehlübersetzung von Trauben sein könnte¹ – was wäre eine Religion ohne ihre Übersetzungsfehler. Aber zurück zu Dahn:] Gleich nach der Wende sei die Zahl der Einkommensmillionäre in der Bundesrepublik um 40 Prozent gestiegen. Die Zahl der reichen Sünder habe zunehmen können, weil die friedliche Revolution im Westen alles beim alten gelassen habe. “Sie hat nur im Osten alle Tore weit aufgerissen, das Brandenburger Tor und das Betriebstor und das Scheunentor auch. Für den Investor aus dem Westen. Und den Liquidator. Den Experimentator und den Triumphator. Den Gladiator und den Plagiator, den Multiplikator und den Kalkulator, den Reformator und den Deklamator, den Senator und den Ursupator, den Imperator und den Kolonisator, den Polarisator und den Agitator. Weit, weit auf. Für viele Kamele.”

Wow. Oder? Mit diesem Zitat wäre das Buch eigentlich schon rezensiert. Was aber schade wäre. Denn Dahn bietet im weiteren Verlauf nicht nur  ähnlich wuchtige Sätze auf:  “Wegen ungünstiger Witterung ist die westdeutsche Frauen-Emanzipation in die Grammatik verlegt worden.” Sie seziert auch mit feiner Klinge: die verblichenen Versprechen und die verstorbenen Hoffnungen. Dabei untersucht ihre Autopsie nicht in erster Linie die DDR, deren Leichnam natürlich trotzdem immer präsent ist. Sie nimmt die 30 Jahre danach ins Visier. Was hat der Wegfall des Realsozialismus gemacht mit Deutschland, Europa und der Welt? Zunächst geht es um Wirtschaft und Eigentum. Dann um die fehlende gemeinsame Erinnerungskultur. Und schließlich um die neue schöne Welt, von Afghanistan über Jugoslawien bis zur Ukraine und zum Jemen. Dahns Gedankenstrom zoomt, zappt und findet Zusammenhänge. Die Kapitel halten Rücksprache miteinander. Und ein Gewinner des Wirtschaftskriegs aus Teil 1 ist dann identisch mit dem Ex-Sturmbannführer in Teil 2.

Kommt die D-Mark …
Das Buch widerspricht dabei auch gern kolportierten Mythen, wie dem von der DDR als Pleitestaat. Dahn nimmt den damaligen Präsidenten der Bundesbank Pöhl zum Zeugen und zitiert aus ihrem Gespräch mit ihm. Hätte man in der Alt-BRD plötzlich den härteren Dollar eingeführt oder in Österreich statt des Schillings die D-Mark, wäre auch deren Wirtschaft auf Talfahrt gegangen. Aber die DDR-Bürger hätten es doch so gewollt? Dahn hat Zweifel daran, dass der Gedanke an die schnelle Einführung der DM tatsächlich zuerst in ostdeutschen Köpfen entstanden ist. Die DDR war demnach nicht pleite – sie ist pleite gemacht worden.

95 Prozent des Volkseigentums sind so in westliche Hände gelangt. Finanzminister Waigel hatte dafür Untreuhänder der Treuhand extra vom Straftatsbestand der groben Fahrlässigkeit freistellen lassen. Den Elitentausch zeigt Dahn an vielen weiteren Beispielen, so an dem der Humboldt-Universität. Deren Nachwende-Rektor Fink wurde mit unbewiesenen Stasi-Vorwürfen zum Rücktritt gezwungen. Sein Nachfolger Krelle war SS-Sturmbannführer. Von den 180 Lehrkräften und wisssenschaftlichen Mitarbeitern der DDR-Uni blieben 10.

Alles Stasi außer Mutti?
Dahn führt aus, dass 41.500 Personen in der DDR operative Maßnahmen seitens der Stasi erlitten haben (gezählt “an einem beliebigen Stichtag” in der zweiten Hälfte der 80er)  – was nach einer hohen Zahl klingt. Aber selbst wenn man die Zahl doppelt so hoch ansetzte, wären nur 0,5 Prozent der 17 Millionen betroffen gewesen, schreibt sie. Sie relativiert nicht das damit verbundene Unrecht. Aber flächendeckende Überwachung sehe anders aus. Eine Vielzahl der sonstigen MfS-Dossiers wären routinemäßige Überprüfungen von Funktionsträgern gewesen. Dahn bezieht sich bei den Zahlen auf Angaben eines Abteilungsleiters der Behörde, die mittlerweile die Stasi-Akten verwaltet.

Erhellend sind auch Dahns Darlegungen zum Antifaschismus der DDR, in letzter Zeit oft als verordnet geschmälert und der Mitschuld am Erstarken der Neonazi-Szene verdächtigt. Dahn belegt, dass in der alten Bundesrepublik zum Beispiel 77 Prozent der leitenden Beamten im Bundesjustizministerium in der NSDAP waren. 2/3 der Richter und Staatsanwälte hatten bereits unter Hitler gedient, 2/3 des Höheren Dienstes im Bundeskriminalamt Ende der 50er Jahre waren SS-Angehörige. Für die Sicherheitsbehörden der DDR nennt Dahn insgesamt 7 Prozent ehemalige NSDAP-Mitglieder, auf mittlerer Leitungsebene im Innenministerium 20 Prozent. In der DDR seien es wenig Belastete gewesen, in der Bundesrepublik sei mit Globke ein Wegbereiter des Massenmords an Juden Chef des Bundeskanzleramtes geworden.

Den Zulauf für die Neonazi-Szene im Osten erklärt Dahn mit dem propagandistischen Trommelfeuer nach der Wende: militanter Antikommunismus und fortgesetzte Relativierung des nationalsozialistischen Unrechts als starkes und auch so verstandenes Signal. Schon die Wortwahl im Einigungsvertrag sei verräterisch. Er spreche grundsätzlich vom NS-Regime und im Gegensatz dazu vom SED-Unrechtsregime. Dahn listet auf, dass ein Monat in einem DDR-Gefängnis eine einmalige Entschädigung von 550 Mark als Kompensation bringt. Ein Monat KZ-Haft wird mit 150 Mark abgegolten. Es sei denn, der Häftling ist Kommunist gewesen – dann gibt es gar keine Entschädigung.

Auf der einen Seite gekürzte VdN-Renten (Verfolgte des Naziregimes) für Kämpfer gegen den Faschismus, auf der anderen Seite steuerfreie Rentenzahlungen für ausländische SS-Angehörige – diese Grundtendenz habe Auswirkungen. „Die Hauptverantwortung für das Erstarken des Rechtsextremismus im Osten trägt die politische Klasse des Westens“, resümiert Dahn.

Auch der Antisemitismus scheint nach einer von ihr zitierten Spiegel-Umfrage in der DDR wenig verbreitet gewesen zu sein. Der Spiegel fand 1992 in den neuen Bundesländern 4 Prozent Antisemiten, in den alten 16 Prozent und meinte: “Durchgängig äußern sich Ostdeutsche weniger antisemitisch, rechtsradikal und ausländerfeindlich als die Westdeutschen.“ Dahns Schlussfolgerung: “Wie immer der in der DDR oft indifferenziert praktizierte Antifaschismus zu bewerten ist – seine sowohl tabuisierende wie auch aufklärerische Substanz war offensichtlich wirksamer als alle westdeutschen Versuche.”

Dahn beschreibt vom Standpunkt einer linken Intellektuellen aus. Die Fehler der postsozialistischen Zeit sieht sie nicht als Missgriff, sondern als Absicht. Und als Schuldigen der Misere macht sie dabei nicht den Neoliberalismus aus, sondern gleich den ganzen Kapitalismus: Soziale Marktwirtschaft habe es in dessen 300-jähriger Geschichte nur in Europa und nur zur Zeit der dortigen Systemkonkurrenz gegeben. In ihrem Schlussplädoyer wendet sie sich an “liebe bewundernswerte Freunde von Fridays for Future“. Wie diese sieht sie die Welt in einem erbärmlichen Zustand. “Es geht ums Maßhalten zwischen Extremen: Konsummaschine oder Klimaschützer? Luxus oder Limit? Jedes haben oder jemand sein?”

Man muss den politischen Standpunkt Dahns nicht teilen, um vielen ihrer Folgerungen beizupflichten. Einer ihrer Sätze über Antisemitismus in der DDR kann gut auch als Erklärung für den häufig zu beobachtenden Umgang mit der Geschichte des ostdeutschen Staates stehen:

“Der gesamte Untersuchungsgegenstand wurde so lange segmentiert und aus störenden Kontexten gerissen, bis er der gewünschten Missdeutung zugänglich war.” Oder missdeute ich hier etwas?

Das Buch ist im Rowohlt-Verlag erschienen, hat 288 Seiten und kostet 14 Euro. Termine für Lesungen in Gadebusch, Wien und vielen anderen Orten stehen hier.

 

One Response to Ausgelesen: Daniela Dahn, Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute

  1. Redaktion sagt:

    Transparente Korrektur: Frau Dahn hat dankenswerterweise per Mail darauf hingewiesen, dass Formulierungen in der Rezension missverständlich sein könnten, und eine Präzisierung angeregt. Die Zahl der 41.500 Opfer operativer Maßnahmen des MfS bezieht sich demnach auf eine beliebigen Stichtag in der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Ich habe diese Angabe in der Rezension soeben in Klammern ergänzt. Die gekürzten VDN-Renten beziehen sich explizit auf Kämpfer gegen den Faschismus. Ursprünglich schrieb die Rezension von Verfolgten.
    Glasnost!