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Wie beschreibt man eine Stadt, die sich aus dem märkischen Sand gewühlt hat? Die vor kurzem je nach Lesart zu zwei Ländern gehört hat oder zu gar keinem? Jens Bisky stellt das Werden dar und dann das Gemeinsame heraus. 800 Jahre Berlin ergeben 1,5 Kilo Buch. Und spannende kleine und große Geschichten, sachlich erzählt.

In der DDR hatte jeder eine Meinung zu Berlin. Die einen fluchten, weil Bauarbeiter nicht in ihren Heimatbezirken eingesetzt wurden, sondern in der Hauptstadt. Andere waren überglücklich, eine der neuen Wohnungen ergattert zu haben. Wiederum andere wären im Leben nicht in die Platte gezogen. Heiner Müller, der selbst dort wohnte, nannte sie “Fickzellen mit Fernwärme”. Großsiedlungen sind aber keine Erfindung des (Ostberliner) Magistrats. In Berlin waren sie zunächst im Westen entstanden: das Märkische Viertel in Norden, Gropiusstadt im Südosten.

Während in West-Berlin die Kritik an den normierten Blöcken zunahm und Pläne für weitere Großsiedllungen daran scheiterten, machte sich der Osten ans Bauen. Um gemäß Parteitagsbeschluss die Wohnungsfrage als soziale Frage zu lösen. Das kleine Dorf Marzahn wurde zur Großbaustelle. Bisky findet den Begriff „eine Art inneres Ausland“ für diesen Typus Stadt.

Angefangen hatte alles beschaulich. Wo die Spree in die Havel floss, entstanden in der Nähe die beiden Siedllungen Berlin und Cölln. Sie waren Stützpunkte für den Fernhandel von der Ostsee zur Elbe und weiter. Und dann? Dann kamen Markgrafen, Könige und Kaiser, Generäle und Dichter, Architekten und Zerstörer, Philosophen und Revolutionäre, Krieg und Frieden und Verbrecher und Retter und Skandale und Premieren.

Natürlich behandelt Bisky Wilhelm Voigt, den Hauptmann von Köpenick und die “Geschichte eines Schusters, der nicht bei seinem Leisten blieb“. Das umfassende Register listet viele weitere Namen auf – bekannte, wie den Stadtkommandanten Nikolai Bersarin. Weniger bekannte, wie den Polizeioffizier Wilhelm Krützfeld. Er hat die Synagoge Oranienburger Straße vor brandschatzenden Nazis und dem Abbrennen gerettet. Und kaum noch bekannte, wie Karl Nobiling, der auf Wilhelm I. schoss und über den Fontane gedichtet hat: “Das war nicht nobel, Nobiling! / Du nahmst die Sache zu gering, / Man schießt mit dreißig Körnern Schrot / Nicht einen deutschen Kaiser tot.“ Claudet Monet findet Erwähnung, wenn auch nur, weil jemand Bilder von ihm gekauft und gezeigt hat. Und Heinz Knobloch wird zitiert, dessen Berlin-Artikel Zierden des (DDR-) Feuilletons gewesen sind. Bisky hat ein überaus buntes Panorama geschaffen, wo jeder Leser an einer anderen Stelle verweilen wird.

“Vernunftmut und Geselligkeit” – vielleicht beschreibt diese Kapitalüberschrift am besten den Charakter Berlins. Den Vernunftmut hat Bisky bei Rahel Levin entlehnt, die in ihrem Salon in der Jägerstraße “ordentliche Dachstuben-Wahrheit“ verteilte. Trotz der „Schande, Jüdin, Frau und nicht hübsch zu sein“, wie sie ihre Position in einem Brief beschreibt. Spreeathen – Berlin als Haupstadt der Aufklärung.

“Vor Gott sind eigentlich alle Menschen Berliner“, zitiert Bisky Fontane. Nun denn, Menschen der Welt, schaut in dieses Buch.

Die Berlin-Biografie ist im Verlag Rowohlt erschienen, hat 976 Seiten und kostet 38 Euro. Termine für Lesungen stehen hier.

 

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