Cover der Biografie Sahra WagenknechtsIst sie eine Heilige? Oder doch nur Stalins Chearleaderin? Die Gerüchte über die Heiligkeit könnten von Schneiders Biografie befeuert werden.

Die Beschimpfung als Stalins Chearleaderin geht auf einen Artikel zurück, den Wagenknecht 1992 veröffentlicht hat. (Wobei: Sind strenge Kostüme beim Chearleadern nicht eher hinderlich? Das wäre eine schöne Szene für eine noch ungeschriebene Mel-Brooks-Revue: Spätherbst für Stalin.) “Nicht zu leugnen ist, daß Stalins Politik – in ihrer Ausrichtung, ihren Zielen und wohl auch in ihrer Herangehensweise – als prinzipientreue Fortführung der Leninschen gelten kann“, schrieb sie damals. Was ironischerweise sogar stimmen mag, wenn auch anders als von Wagenknecht gemeint. Sie war im Sommer 1989 als knapp Zwanzigjährige in die SED eingetreten – die Partei stand in diesem Jahr nicht auf dem Zenit der Beliebtheit. Für ihr trotziges Beharren auf etwas, das sie damals für kommunistische Ideale hielt, flog sie 1995 aus dem Parteivorstand der PDS: die Bruchlandung ihres ersten politischen Höhenflugs. Seitdem hat sich viel getan.

Schneiders Biografie zeichnet nach, wie Wagenknecht zu der äußerlich beherrschten, distinguierten Politikerin geworden ist, als die sie viele heute schätzen. Er hat dafür ausführlich mit Sahra Wagenknecht gesprochen, mit ihrem Ehemann Oskar Lafointaine, mit ihrer Mutter, mit einer engen Freundin. Herausgekommen ist ein kenntnisreiches Buch. Das auch die politischen Auffassungen Wagenknechts gut verständlich zusammenfasst.

Verlust, Fremdheit, Aufbruch
Sahra, die ohne ihren Vater aufwächst, ein Iraner, der in Westberlin studiert und bald spurlos verschwindet. Die mögliche Nachfolger weggrault. Die sich mit vier Jahren und mit der Hilfe ihrer Großeltern selbst das Lesen beibringt. Die Übergewicht hat und von Mitschülerinnen als Chinesin gehänselt wird. Und die dann mit Selbstdisziplin, intellektuellem Hunger und mit Gerechtigkeitssinn einen Weg geht, der Parteichef Riexinger im Oktober 2017 und mit ein paar Gläsern Wein intus sagen lässt: “Sahra muss gegangen werden, und daran arbeiten wir. Wenn wir sie immer wieder abwatschen und sie merkt, sie kommt mit ihren Positionen nicht durch, wird sie sicher von allein gehen.”

Christian Schneider ist studierter Sozialpsychologe, promovierter Philosoph und ausgebildeter psychoanalytischer Therapeut. Nach eigenem Bekunden trennt er nicht zwischen seinen Tätigkeiten als Autor und als psychoanalytischer Coach, da sich beides beeinflusse. Für die von ihm verfasste Biografie ist das oft ein Segen. Weil er versucht, Motive für Äußerungen und Handlungen zu begründen und in Zusammenhänge zu stellen. Manchmal wirkt sein Psychologisieren übermotiviert. Etwa, wenn er eine frühkindliche Erinnerung Wagenknechts, wie sie als Zweijährige auf den Schultern ihres Vaters sitzt, dechiffriert als “das wunderbare Gefühl, von einer geliebten Person in den Himmel gehoben zu werden“. Gegen Ende des Buchs schreibt er: “Sahra Wagenknechts innigster Wunsch in allen Phasen ihres Lebens ist aber genau der nach einem gelingenden Dialog: der Wunsch nach Abgleich und Austausch von Eigenem und Fremdem, der auf die Herausforderungen des anderen reagiert.“ Das klingt ein wenig nach Küchenpsychologie und in seiner Endgültigkeit ein wenig danach, was eine meiner geschätzten Deutschlehrerinnen als Hybris bezeichnet hätte, als frevelhaften Übermut.

Überzeugender ist Schneider  in seinem politischen Fazit: “Nahezu alles, wofür Sahra Wagenknecht heute politisch steht, entspricht dem klassischen, dem besten sozialdemokratischen Erbe. Es ist der Versuch, das nachzuholen, was die SPD versäumt oder aufgegeben hat.”

Über persönliches Leiden zur Erlösung: So gehen Geschichten über Heilige. Ein spannendes Buch über eine spannende Politikerin.

Das Buch ist im Campus-Verlag erschienen, hat 272 Seiten und kostet 22,95.

WARNUNG vor expliziten Inhalten des Buchs: Sollten sich unter den Lesern dieses Blogs Maiks oder Mandys befinden: Laut Christian Schneider zählen Sie mit zu den Trägern der “erstaunlichsten Vornamen“, denen eine DDR-Bürokratie den Segen gegeben habe.

 

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