Eliten in Ostdeutschland sind fast immer westdeutscher Herkunft. Über die Gründe spricht im Interview Jürgen Angelow –  Historiker, Politikberater und Publizist. Angelow lehrt an der Potsdamer Universität und der FU Berlin und hat das Buch “Entsorgt und ausgeblendet. Elitenwechsel und Meinungsführerschaft in Ostdeutschland” veröffentlicht.

Laut einer Studie beträgt der Anteil Ostdeutscher an Führungspositionen in Ostdeutschland nur 23 Prozent. Die besonders einflussreichen und lukrativen Jobs in Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung, Justiz sind fest in westdeutschen Händen. Wie ist es dazu gekommen?

Nachdem die DDR-Machtelite durch die friedliche Revolution bereits 1989 “in Rente geschickt” worden war, hat es nach 1990 auch eine großräumige und schubweise Ausschließung der viel umfangreicheren ostdeutschen Funktionselite gegeben. Viele Positionen wurden mit westdeutschen Aufbauhelfern besetzt, deren Leistung kein Mensch in Abrede stellen will. Doch haben sie natürlich Kräfte nachzogen, die ihnen kulturell, habituell und zum Teil landsmannschaftlich vertraut waren. Die Systemnähe vieler Ostdeutscher galt als Makel und Ausschließungsgrund. Es wurde zu wenig Wert darauf gelegt, die regionale Kompetenz der Ostdeutschen und ihre Transformationserfahrung zu nutzen. Man traute ihnen keinen Erfahrungswandel zu, kein Ankommen-Können in der Werteordnung der Bundesrepublik. Viele wären gern aktiver gewesen, man hätte ihnen etwas mehr Vertrauen entgegenbringen und sie für Führungsaufgaben qualifizieren müssen.

Für – sagen wir einmal – Hamburger wäre es ein Skandal, falls 80 oder 90 Prozent der Chefs im Land aus – sagen wir einmal – Bayern kämen. Wieso nehmen Ostdeutsche es seit drei Jahrzehnten hin, von Spitzenjobs ausgeschlossen zu sein?
Das ist schlichtweg skandalös und es wird, betrachtet man die Statistik, immer schlimmer! Wir wollen keine kleinkarierte Abschottung von Regionen oder Bundesländern. Aber derart ausgeschlossen zu werden, und das auch noch langfristig, ist nicht hinnehmbar. Darüber regen sich viele Menschen auf, zuhause am Küchentisch, in den Kneipen und nun auch zunehmend öffentlich. Das ist ein Feld für politisches Handeln!

Die Landesgruppe Ost der SPD im Bundestag will die Zahl Ostdeutscher in Führungsgremien von Bundesbehörden erhöhen und beruft sich dabei auf das Grundgesetz, dem zufolge in obersten Bundesbehörden Beamte aus allen Ländern angemessen zu verwenden sind. Gleichzeitig will sie mehr Bundesbehörden in den neuen Ländern ansiedeln. Kann das helfen oder ist es nur Kosmetik, weil die Strukturen schon zu festgefahren sind?
Der erste Gedanke ist richtig, auch wenn es natürlich immer rechtliche Bedenken gegen die praktische Umverteilung von Ressourcen und Lebenschancen geben wird. Daneben muss aber ein ganzes Bündel von Maßnahmen auf der Ebene der Personalführung in Anwendung gebracht werden: Einstellungskorridore, angepasste Einstellungskriterien, Qualifikations- und Beschwerdemöglichkeiten und vieles andere mehr. Personalführung kann sehr erfinderisch sein. Das haben die Ostdeutschen nach 1990 spüren dürfen. Eine unverbindliche Selbstverpflichtung von Behörden ist schön, aber damit kommen wir nicht weiter. Auch der zweite Gedanke ist richtig, wenn er mit dem ersten kombiniert wird. Es ist nie zu spät!

Ostdeutsche Herkunft scheint in den Augen der bestimmenden westdeutschen Eliten nach wie vor ein Makel – trotz Angela Merkel, Joachim Gauck oder Franziska Giffey. Wieso ist das so?
Das liegt oft an der mangelnden kulturellen und habituellen Passfähigkeit, am “Stallgeruch”. Die Betreffenden können es auf große Entfernung “wittern”. Sprache, Auftreten, Selbstvertrauen, soziales Verhalten – all das unterscheidet viele Menschen in den ost- und westdeutschen Ländern. Die Differenzierung der Ostdeutschen in die „Guten“ und die „Bösen“ hat dazu geführt, dass Misstrauen auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer nicht abgebaut werden konnte. Manch einer in den alten Ländern fühlt sich bis heute als etwas Besseres oder hat eine eher paternalistische Einstellung zu den Ostdeutschen.

Wenn ostdeutsche Wissenschaftler oder Journalisten mit ihrem Erfahrungshorizont als Experten gefragt sind, dann oft nur als für als ostdeutsch empfundene Probleme. Sie sollen die Wahlerfolge der AfD erklären. Und nicht etwa die Lauschaktionen amerikanischer Geheimdienste. Auch eine Zuweisung von Plätzen, oder?
In der Regel sind ostdeutsche Deutungen zu den “großen Fragen” nicht erwünscht, bis auf einige prominente Ausnahmen. In den orientierenden Sozialwissenschaften sind Ostdeutsche profilbestimmend kaum noch anzutreffen. In den Talkshows bilden sie eher den devoten Part. Sie dürfen darüber reden, wie furchtbar das Leben in der DDR war und wie glücklich sie nun sind, in der Freiheit angekommen zu sein. Das ist ja an sich nicht völlig falsch, aber es ist penetrant.

Apropos: Haben die guten Wahlergebnisse der AfD im Osten mit dem fehlenden Gewicht Ostdeutscher auf Entscheiderebene zu tun?
Dafür sind noch andere Faktoren verantwortlich. Der Frust vieler Menschen, nicht gehört, beachtet oder gefragt zu werden, gehört sicher auch dazu. Viele wollen nicht “von oben” oder “von anderen” regiert werden, sie würden gern ein Wörtchen mitreden. Das muss man ernst nehmen. Manche Menschen haben auch resigniert oder üben sich in dumpfer Ablehnung aller Politik und aller politischen Köpfe. Kann man sie zurückholen? Und wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Entwicklung nach 1990 vielerorts zu einer Schwächung der ostdeutschen Zivilgesellschaft geführt hat. Generationentypische Erzähl- und Unterstützungsgemeinschaften sind zerstört worden. Den Zusammenhalt in der Gesellschaft wiederherzustellen, Menschen zu ermächtigen, sich selbst zu helfen und positive Impulse zu setzten, das wäre eine wichtige Aufgabe!

Vielen Dank für das Gespräch.

Siehe auch:
SPD-Ost für mehr Ostdeutsche in Führungspositionen

 

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