Heinz Engelhardt war der jüngste Stasi-General. Er hat die Stasi-Nachfolgebehörde Amt für Nationale Sicherheit zuerst aufgebaut und dann abgewickelt. Im Gespräch mit dem Journalisten Peter Böhm spricht er über Anfang und Ende des MfS.
Wie wird aus einem Umsiedler-Kind aus Ostpreußen, gestrandet im Vogtland, ein Stasi-General? Bei Engelhardt beginnt es 1962 mit einem Gespräch in der Schule, kurz vor dem Abitur. Engelhardt will Sportlehrer werden, als ihm ein Werber aus dem MfS vorschlägt, seinen Wehrdienst in einer Wacheinheit des Ministeriums zu absolvieren. Stahlhelm sei schließlich Stahlhelm. Engelhardt kommt aus einer kommunistisch gesinnten Familie. Für den jungen Mann ist die Kriegsgefahr so real wie die Sabotage in Betrieben durch westdeutsche Geheimdienste. Und der Tischler Pieck aus kleinen Verhältnissen ist ihm näher als der promovierte Bundeskanzler Adenauer aus bürgerlichem Haus.
Nach dem Dienst in der Wacheinheit der Stasi-Bezirksverwaltung und einem Lehrgang beginnt Engelhardts Laufbahn: Spionageabwehr der MfS-Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt, Leitung der Kreisdienststelle Reichenbach/Vogtland, Jura-Studium, danach Abteilungsleiter, wiederum in Karl-Marx-Stadt. 1986 wechselt er nach Frankfurt/O. und übernimmt etwa ein Jahr später die Leitung der dortigen MfS-Bezirksverwaltung.
Ende 1989 ist Engelhardt, inzwischen Generalmajor, im Auftrag der Regierung Modrow daran beteiligt, das Amt für Nationale Sicherheit aufzubauen – und dann abzuwickeln. Engelhardt ist als Leiter eines Verfassungsschutzes vorgesehen. Die Behörde kommt gerade noch dazu, Dienststempel anzuschaffen. Nach den Volkskammer-Wahlen im März 1990 geht es nicht mehr um den Schutz einer DDR-Verfassung, sondern um das Tempo der Wiedervereinigung. Als Berater der Regierung Lothar de Maizière wickelt Engelhard noch knapp zwei Monate die Reste des Amtes für Nationale Sicherheit ab und verhandelt mit westdeutschen Geheimdiensten über eine Amnestie für DDR-Spione im Westen. Danach wird der General zum Lehrling. Er beginnt eine Ausbildung zum Reiseverkehrskaufmann und arbeitet 15 Jahre in einem Reisebüro in Berlin-Weißensee.
Engelhardt ermöglicht Einblicke in die Struktur und Arbeitsweise des MfS – vom Ministerium bis zu den Kreisdienststellen, von der Auslandsspionage bis zur Abwehr. Interviewer und Interviewter streifen im Plauderton Episoden, wie den Umgang mit einem politisch unzuverlässigen Radrennfahrer, den Anschlag auf ein sowjetisches Mahnmal, den Sturm auf die Stasi-Zentrale in der Ruschestraße in Berlin im Januar 1990, bei dem Engelhardt als kommandierender Offizier in seinem Dienstzimmer mit Demonstranten spricht. Für ehemalige politische Häftlinge dürfte dieser Ton schwer zu ertragen sein, obwohl sich Engelhardt gleich zu Beginn für seine Beteiligung an einer falschen Sicherheitsdoktrin entschuldigt.
Engelhardt kritisiert das MfS und sich selbst dafür, ökonomischen und politischen Problemen strafrechtlich statt ökonomisch und politisch begegnet zu sein. Er plädiert dennoch für eine differenzierte Sicht auf das Ministerium statt einer sensationsheischenden Hysterie, bei der es auf Fakten und Belege kaum noch ankommt. Geheimdienstliche Tätigkeit sei kein Schattenboxen: Auch die andere Seite habe Nachrichtendienste gehabt. Engelhardt zitiert die kleine Anfrage von 1993 einer Bundestagsabgeordneten der Grünen, ob es stimme, dass “im Auftrag des Bundesministeriums des Innern und mit Hilfe des zuvor übergelaufenen Generalmajors des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Edgar Braun, heimlich Akten vor allem über westdeutsche Personen des öffentlichen Lebens aus den MfS-Archiven entnommen” wurden. Die Antwort: “Die Bundesregierung nimmt zu Fragen, die nachrichtendienstliche Kontakte zu einzelnen Personen betreffen, aus Gründen des Schutzes des Nachrichtenzuganges nicht öffentlich Stellung.”
Das Gespräch zwischen Engelhardt und Böhm ruft in Erinnerung, dass die friedliche Wende ein Verdienst nicht nur von Bürgerrechtlern ist. Sie ist ebenfalls der Besonnenheit der anderen Seite zu verdanken.
Das Buch ist in der Edition Ost der Eulenspiegelverlagsgruppe erschienen, hat 288 Seiten und kostet 16,99.
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