Sommer 89. Auf der einen Seite 2,3 Millionen SED-Genossen. Auf der anderen Seite eine Opposition mit laut Stasi-Angaben 2 400 Aktivisten, 600 Führungsfunktionären und 60 “unbelehrbaren Feinden des Sozialismus”. Ein paar Spartaner gegen das riesige Perserheer. Wenig später hat Sparta gewonnen. Auch weil viele Perser nicht angetreten sind oder die Seiten gewechselt haben.

Wie das geschehen konnte, analysiert Sabine Pannen in ihrem lesenswerten Buch, einer Version ihrer Dissertationsschrift, mit der sie 2017 an der Humboldt-Universität promoviert hat. Sie konzentriert sich darin auf die SED-Grundorganisation des Stahlwerks Brandenburg. Dabei stützt sie sich auf  Dokumente dieser Organisation, der Parteikontrollkommission, auf Lageeinschätzungen des Ministeriums für Staatssicherheit und auf Interviews mit ehemaligen Beschäftigten. Den Schwerpunkt der Analyse bilden die 80er Jahre. Pannen betrachtet aber auch die Entwicklung davor und zieht sie zu Vergleichen heran. Hatte Louis Fürnberg 1949 in seinem Huldigungslied “Die Partei” (“.., die hat immer recht”) noch als mythische Gesinnungsgemeinschaft beschrieben, hatte die SED sich seitdem zur Staatspartei entwickelt – mit Mitgliedern unterschiedlicher Haltung, Überzeugung und Grad der Parteibindung.

Für die Partei Ende der 70er Jahre beschreibt Pannen drei Milieus: Zum einen gibt es die Gruppen der alten Kommunisten und Sozialdemokraten, die Altkommunisten dabei beherrscht von den Exilanten aus Moskau. Mittlerweile befinden sie sich im Rentenalter und dominieren die Parteiarbeit in den Wohngebietsorganisationen. Den Kern der Mitgliedschaft bilden derweil die sozialen Aufsteiger, die als “FDJ- oder Aufbauorganisation” außergewöhnliche berufliche Karrieren erlebt hatten. Diese Aufsteiger sind in der Machtsicherungselite, aber besonders stark auch in Funktionseliten vertreten: Verwaltung, Wirtschaft, Bildungswesen, Wissenschaft, Kunst. Der soziale Aufstieg der “Arbeiterkinder” sichert dem Staat deren Loyalität. Die jüngere Generation, die seit den 70er Jahren in die Partei eingetreten ist, hat keine Erinnerungen mehr an Weltkrieg und an ein ungeteiltes Deutschland. Für sie ist der Parteieintritt oft nicht mehr als eine weitere Mitgliedschaft zusätzlich zu der in der FDJ und anderen Massenorganisationen, die sich in den staatlich geordneten Lebenslauf einfügt und als Normalität empfunden wird.

In einer  „Industrieprovinz“ wie der Stadt Brandenburg ist außerdem ein hoher Anteil von Industriearbeitern charakteristisch: Von den im Jahr 1981 knapp 2 300 Mitgliedern und Kandidaten der SED im Stahlwerk sind zwei Drittel Arbeiter. Etwa 17 Prozent der Mitglieder sind Frauen – bei einem weiblichen Anteil der Beschäftigten von etwa einem Vierteil sind sie in der Partei unterrepräsentiert. Was womöglich mit dem rauen Ton zu tun hat, der im Stahlwerk üblich war und vor dem sich laut Pannen sogar Parteiinstruktoren fürchteten.

Von Vermittlern zu Verstummten
Die Parteibasis wirkt bei Alltagsproblemen oft als Vermittler und Kümmerer. Die Probleme werden auf Parteinversammlungen angesprochen oder als Eingabe an höhere Parteiinstanzen formuliert. Pannen zitiert eine ehemalige Leiterin im Stahlwerk: “Also, da gab es kein Pardon … dass dann gesagt wurde ‘Also Kinder, die Busse sind so voll. Da müsste mal mit dem Rat der Stadt gesprochen werden, dass die mal mehr Busse einsetzen.’” Diese Offenheit gilt nur bei Versorgungsproblemen, betrieblichen und kommunalen Schwierigkeiten. Prinzipielle Kritik an der SED-Politik ist unerwünscht. Parteimitglieder können auf diese Weise Verbesserungen im betrieblichen und kommunalen Alltag bewirken. Sie bleiben aber immer auch Ideologievermittler. Ins Wanken gerät diese Vermittlerfunktion mit Gorbatschows Perestroika.

Gorbatschow beginnt 1985 einen Umbau von Partei und Gesellschaft hin zu Demokratie und Transparenz: Perestroika und Glasnost. In einer Grundsatzrede im Juni 1985 kritisiert er korrupte und ineffiziente Leiter, Mängel der Wirtschaft und der Infrastruktur. Betriebe sollen stärker eigenverantwortlich handeln, die Entlohnung soll leistungsabhängig werden. DDR-Bürger bringen diese Äußerungen mit eigenen Erfahrungen in Verbindung, wie der Empfindung einer sich seit Jahren verschlechternden Versorgung. Weil Gorbatschow auch in der Partei frischen Wind verbreitet, setzt in der SED zunächst eine Repolitisierung der Mitgliedschaft ein. Während die Basis die Reformbestrebungen begrüßt, finden sich Reformgegner vor allem unter den hauptamtlichen Parteifunktionären, unter Parteiintellektuellen und im Staatsapparat. Sie glauben, die Politik der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik sei ein Wachstumsmotor, der Reformen unnötig mache. Ihre Zwickmühle: Weder wollen sie Gorbatschow folgen noch sich offiziell von der Bruderpartei distanzieren. Kurt Hager, als ZK-Sekretär für Wissenschaft, Kultur und Bildung, auch ein Chefideologe der Partei, prägt 1987 in einem Interview mit dem Stern dafür das Bild, dass man seine Wohnung nicht tapezieren müsse, nur weil der Nachbar das tue.

In der Folge versucht die SED, Informationen aus der Sowjetunion zu unterdrücken: Das Magazin Sputnik wird nicht mehr ausgeliefert, Reden von KPdSU-Funktionären werden entgegen bisheriger Praxis nur noch in Auszügen veröffentlicht. Das Sputnik-Verbot wird erst nach zwei Wochen durch eine dürre Pressemitteilung und eine weitere Woche später durch einen Kommentar im ND begründet. Die Basis fühlt sich alleingelassen, eine Vermittlerrolle kann sie nicht mehr einnehmen, da Antworten fehlen. Parallel verschärft sich die Versorgungskrise. Symptomatisch dafür ist das neue, überteuerte Wartburg-Modell und der als Entspannungs-Scherz gemeinte, aber von vielen als Hohn empfundene Kommentar des Berliner SED-Chefs Schabowski, zur Ausstattung gehörten natürlich auch fünf Räder. Ein von der SED-Führung im Dezember 1989 als Disziplinierung eingeleiteter Umtausch der Parteidokumente nach persönlichen Gesprächen führt nicht zur ideologischen Einnordung der Mitglieder, sondern zu weiteren Diskussionen und zahlreichen Parteiaustritten. Der Parteiapparat beginnt seine Macht über die Mitglieder zu verlieren. Die Fälschungen bei der Kommunalwahl im Mai 1989 stoßen dann auch bei SED-Mitgliedern auf Widerspruch, die das „Zettelfalten“-Ritual bisher akzeptiert hatten. Mittlerweile haben die Sowjetunion, der Runde Tisch in Polen und ein geändertes Wahlverfahren in Ungarn angedeutet, wie Demokratie im Sozialismus aussehen könnte.

Den Rest des Buchs im Schweinsgalopp – es ist Sonntag und der Rezensent will  noch Kaffee trinken (den guten aus dem Westen): Ausreisewelle, Krenz statt Honecker, Mauerfall, Rücktritte, unterschiedliche Plattformen in der Partei… Bis 1991 schrumpfte die Mitgliederzahl auf 10 Prozent der ursprünglichen Größe. Fast die Hälfte war älter als 60. “Für die meisten Genossen in einem demokratisierten und deindustrialisierten Ostdeutschland fungierte die PDS nun als Schutzverband und Heimatverein.”

Von einer „Partei neuen Typus“ zu einer Partei mit sozialistischem Traditionskern: Das Bild eines Scheiterns, eingerahmt vom Aufbruch einer Gesellschaft.

“Wo ein Genosse ist, da ist die Partei! Der innere Zerfall der SED-Parteibasis 1979-1989″ ist im Christoph-Links-Verlag erschienen. Das Buch hat 359 Seiten und kostet 40 Euro.

Erklärung in eigener Sache: Ich war etwa ein Jahr in der SED und trat im Januar 1990 aus. Während meiner Mitgliedschaft und davor als Beobachter habe ich erlebt: hundertfünfzigprozentige Klassenkämpfer mit Schaum vor dem Mund, Heuchler, Pragmatisten und reflektierte Anhänger einer Gesellschaft, in der „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.

 

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