“1913. Der Sommer des Jahrhunderts” ist ein Kaleidoskop aus Erinnerungsfetzen und Tagebuchschnipseln, aus kleinen und großen Begebenheiten. Auch wenn der Plauderton süffisant wird oder Tragisches streift, verliert das Buch nichts von seinem Charme. Der Leser begibt sich auf die Suche in eine verlorene Zeit.

“1913″ beginnt mit einem Knall: In der ersten Sekunde des Jahres feuert ein zwölfjähriger Junge namens Louis Armstrong in New Orleans in die Luft. Er wird in eine Besserungsanstalt gebracht und bekommt vom dortigen Direktor eine Trompete in die Hand gedrückt. Der Rest ist Musikgeschichte. Ob das tatsächlich so passiert ist oder nur eine gut gestrickte Legende? Wer Besseres zu erzählen hat, werfe den ersten Stein.

Das Buch versammelt allseits bekannte Namen und Semi-Berühmtheiten, die allenfalls Spezialisten oder sehr gebildeten Menschen ein Begriff sind. Mata Hari steigt dem deutschen Kronprinzen nach, der Galerist Alfred Flechtheim plant seinen Selbstmord, Stalin besiegt siebenmal hintereinander Lenin im Schach. Einen Monat und zahlreiche Episoden später läuft er in Frauenkleidern durch St. Petersburg, wird trotzdem erkannt, verhaftet und nach Sibirien verbannt. Kafka, Thomas und Heinrich Mann, Kokoschka, Anatol France, Arthur Schnitzer, Kaiser Franz Joseph, Egon Schiele, Einstein, Freud, viele Künstler, einige Politiker.

Die erste deutsche Frau mit Pilotenschein Amelie Beese heiratet einen Franzosen, die ungarische Tänzern Romola de Pulszky erlebt mit Nijinsky den Nachmittag eines Fauns. “Am 23. August wird die von Edvard Eriksen ausgeführte ‘Kleine Mehrjungfrau’ im Hafen von Kopenhagen enthüllt“ – der Körper ist der Ehefrau des Künstler nachgebildet, der Kopf dessen Geliebter. “Auch eine Lösung “, kommentiert Illies.

Pola Negri feiert erste Erfolge mit einem Hauptmann-Drama, Rosa Luxemburg botanisiert Pflanzen in Oktavhefen und appelliert an die Arbeiter, nicht zu den Waffen zu greifen. Madame Matisse weint, weil ihr Mann das hübsche Porträt von ihr mit einer grauen Maske übermalt hat. Picasso hingegen ist begeistert und beginnt ein eigenes Frauenbild: “Sitzende Frau in einem Sessel”. Seine Lebensgefährtin Eva ist darauf nicht zu erkennen, man sieht spitz zulaufende Brüste, die an afrikanische Plastiken erinnern: “Es ist keine Freude, Frau eines kubistischen Malers zu sein.”

In England erwähnt Elizabeth M. Wright in einem Buch über Folklore erstmals die Redewendung “An apple a day keeps the doctor away.” In Deutschland schreibt der 15-jährige Brecht patriotische Verse: “Und wenn am Abend wir sinken / u. sterben den Heldentod / dann soll uns tröstend winken / die Fahne schwarz-weiß-rot.” Ludwig Mies van der Rohe macht sich als Architekt selbstständig.

Und was haben Sie mit fünfzehn so geschrieben?

“1913. Der Sommer eines Jahrhunderts” ist vor kurzem in fünfter Auflage als Fischer-Taschenbuch erschienen und kostet 12 Euro.

 

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