“Sie immer mit Ihren Flüchtlingen. Integriert doch erst mal uns!” Diese geraunten Worte eines Demonstranten nimmt Petra Köpping zum Anlass, in ihrer Streitschrift für den Osten nachwirkenden Ungerechtigkeiten der Wiedervereinigung auf den Grund zu gehen.
Köpping ist in der SPD, im sächsischen Landtag – und sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration. Das Buch profitiert von ihren Erfahrungen in der Landes- und Kommunalpolitik, aber auch davon, dass die Autorin sich wie so viele Ostdeutsche nach der Wende beruflich neu erfinden musste. Dieser Lebensweg verleiht dem Buch Bodenhaftung und hebt es deutlich über den Standard anderer, von Eigen-PR getriebener Politikerbücher.
Die 1958 geborene Köpping war drei Jahre in der SED. Vier Monate vor der Wende trat sie aus, war danach parteipolitisch abstinent und ging 2002 in die SPD. Heute sieht sie diese politische Zurückhaltung vieler im Osten in der Nachwendezeit als einen der Gründe dafür, wieso sich ostdeutsche Interessen so selten gegen westdeutsche Mehrheiten durchsetzen.
Heimatlos im neuen Land?
Das Buch fächert ein breites Spektrum auf – von der Treuhand und deren Folgen, schweigenden ostdeutschen Eliten bis hin zur Abwertung von Berufsabschlüssen und ganzer Leben. Dabei findet Köpping interessante Querverweise. Die Politik der Privatisierung griechischer Staatsunternehmen zur Senkung der Schulden sieht sie zum Beispiel als eine Treuhand 2.0. Dass mit steigenden Einkommen in Ostdeutschland ab Ende der 90er Jahre die Bereitschaft zur Wahl radikal rechter Parteien zugenommen hat, verbindet sie damit, dass manche wohlhabend gewordene Ostdeutsche ihre Leistung durch Abwertung anderer zusätzlich erhöhen wollen. Dazu zitiert sie die Aussage eines Sozialwissenschaftlers, dass Rechtsextremismus eine viel größere gesellschaftliche Virulenz erhält, wenn er nicht nur von den Verlierern, sondern auch von prestigeträchtigen Vorbildern verkörpert wird.
Das Buch benennt nicht nur Probleme. Es schlägt auch Lösungen vor oder reißt diese wenigstens an. Viele der Frauen, die in der DDR geschieden wurden, sind im Alter von Armut getroffen: In der DDR erhielten sie keinen Anteil am Rentenanspruch ihres Mannes, der in der DDR für die Rente übliche verlustfreie Ausgleich für Zeiten der Kinderbetreuung starb mit dem Land. Bei 300.000 Betroffenen, denen mit monatlichen Beträgen zwischen 100 und 400 Euro geholfen wäre, nennt Köpping einen Betrag zwischen 60 und 120 Millionen für Nachzahlungen, ohne ihn näher zu erklären. Nach Berechnungen eines Betroffenen-Vereins würde der Ausgleich den Steuerzahler insgesamt 35 Milliarden Euro kosten. Dass die aktuelle große Koaliton einen Härtefallfonds für Renten vereinbart hat, rechnet Köpping der SPD und sich als Erfolg an.
Immer wieder zitiert Köpping Studien oder Umfragen, die ihre Thesen erhärten: So meinen zwei Drittel der Ostdeutschen, nicht ihren gerechten Anteil am Wohlstand zu erhalten, nur ein Drittel fühlt sich fair behandelt. In den alten Bundesländern ist das Verhältnis umgekehrt.
Zuhören, reparieren, verbessern
Köpping fordert dazu auf, einander zuzuhören, damit der Westen in Bezug auf Ostdeutschland nicht weiter ein Tal der Ahnungslosen bleibt. Ein Bündnis zwischen Ost und West, die Aufarbeitung der Treuhand, die Reparatur dessen, was noch zu reparieren ist und eine Debatte über Veränderungen in ganz Deutschland – so lauten ihre Folgerungen und Forderungen. Ihr Buch könnte dafür ein kleines Puzzle-Teil sein. Es ist ehrlich, aber nicht selbstmitleidig, macht die Schuld nicht nur am Westen fest und verteidigt die Demokratie.
Mit ihrer eigenen Partei geht Köpping im Buch gnädig um. Sie findet Worte der Hochachtung für die engagierte Sozialpolitikerin Regine Hildebrandt und vermeidet namentliche Kritik an den Hartz-IV-Konstrukteuren Peter Hartz und Gerhard Schröder. Aber vielleicht habe ich diese Kritik auch nur überlesen – dem Buch fehlt ein Personen-Glossar. Mitunter gebraucht sie “rechts” auch synonym für “rechtsextremistisch”, was ihren Absichten entgegenwirkt. Lesenswert ist das Buch auf jeden Fall – für Ost- wie Westdeutsche. Es kostet 18,00 Euro und erscheint dieser Tage im Christoph-Links-Verlag.
Siehe auch:
Petra Köpping, 59, Sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration
Kein Geld macht auch nicht glücklich
Achthundert Seiten Treuhand
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